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aufgebaut wird. Libdido und Aggression werden zu hierarchisch übergeordneten Motivationssystemen, die je nach den Umständen in mannigfaltigen, differenzierten Affektdispositionen Ausdruck finden. Die Affekte sind die Bausteine der Triebe und nehmen schließlich eine Signalfunktion für deren Aktivierung an. Libido und Aggression manifestieren sich klinisch auf einem Spektrum konkreter Affektdispositionen und Affektzustände. Affektzustände und die entsprechenden Objektbeziehungen können klinisch auf Aggression, Libido oder, in späteren Entwicklungsphasen, auf Vermengungen dieser beiden Triebe zurückgeführt werden. „Die Beziehung zu einem Objekt verändert sich unter dem Einfluss der biologischen Aktivierung neuer Affektzustände, die während der gesamten Entwicklung auftauchen und Veränderungen der Qualität der Triebe nach sich ziehen. Zum Beispiel verändern sich die präödipalen libidinösen, auf die Mutter gerichteten Strebungen unter dem Einfluss neu auftauchender, sexuell gefärbter Affektzustände auf der ödipalen Stufe der Entwicklung. Diese Affekte organisieren sich zu genitalen Strebungen, die in Verbindung mit früheren libidinösen aktiv sind, aber eine veränderte subjektive Qualität und andere motivationale Implikationen aufweisen. Auf ähnliche Weise manifestiert sich die auf dasselbe libidinöse Objekt gerichtete Aggression auch in verschiedenen partiell aggressiven Affektzuständen, entwickelt sich über diese konkreten aggressiven Affekte hinaus und führt – insbesondere nach Vermischung und Integration von aggressiven und libidinösen Strebungen – zu einer neuen Komplexität der Objektbeziehungen und einer neuen Gruppe höherrangiger, komplexerer integrierter Affektzustände wie Traurigkeit, Zärtlichkeit, Schuldgefühle, Sehnsucht usw.“ (Kernberg 1982, S. 908f.) Unter Berufung auf Wright und Panksepp (2014), Krause (2012) und andere beschreibt Kernberg (2021 [2015b]), wie sich die wesentlichen primären Affekte zu affektiven Systemen entwickeln. Wesentliche primäre Affekte tauchen in den ersten Wochen und Monaten des Lebens auf. Zu ihnen zählen „Freude, Wut, Überraschung, Furcht, Ekel, Traurigkeit und sinnliche Erregung“ (S. 28). Die Affekte können Systemen zugeordnet werden, nämlich Bindung, Sexualität, Kampf-Flucht, Spiel- Bonding, Verlassenheitspanik und Suchen/SEEKING. Das SEEKING-System (Wright und Panksepp 2014) ist „eine basale, unspezifische Motivation der Reizbefriedigung, die sich an jedes der anderen Affektsysteme heften kann“ (ebd., S. 28). Aufgrund der ihm fehlenden Spezifität wird es von manchen Autoren als zeitgenössische Version des freudianischen Triebs betrachtet (Johnson 2008). Laut Panksepp und Kernberg erklärt das SEEKING-System, weshalb es unter bestimmten Bedingungen zu einer exzessiven Aktivierung aggressiver oder affiliativer Systeme kommen kann. Unter einem psychoanalytischen Blickwinkel betrachtet, wirft die Konzipierung der Affekte als primäre Motivationssysteme Fragen bezüglich des Ausmaßes auf, in dem Triebe durch die Integration entsprechender positiver („libidinöser“) und negativer („aggressiver“) Affekte konstituiert werden und inwieweit Affekte tatsächlich als Ausdruck dieser mutmaßlich entsprechenden Triebe zu betrachten sind. Affekte initiieren die Interaktion zwischen Selbst und Anderen, und die Internalisierung dieser Interaktionen (in Form affektiver Erinnerung) determiniert (bindungstheoretisch ausgedrückt) die
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