Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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III. Abb. Vergleich zwischen Winnicott und Freud: In “Der Dichter und das Phantasieren“ schreibt Freud (1908e [1907]) über die ersten Ansätze der Phantasie in der Kindheit: “Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. […] Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, indem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt“ (S. 213). Das Kind nimmt sein Spiel ernst und besetzt es emotional. Es unterscheidet sein Spiel von der Wirklichkeit, denn es bringt seine phantasierten Objekte und Situationen mit den greifbaren, sichtbaren Dingen der realen Außenwelt in Verbindung. Dichtern und Kindern ist das Spielen gemeinsam, doch das Gegenteil des Spiels ist nicht der Ernst, sondern die Wirklichkeit. Was Freud als „Unwirklichkeit“ der Phantasiewelt des Dichters bezeichnet, hat wichtige Konsequenzen, „denn vieles, was als real nicht Genuß bereiten könnte, kann dies doch im Spiele der Phantasie, viele an sich eigentlich peinliche Erregungen können für den Hörer und Zuschauer des Dichters zur Quelle der Lust werden“ (ebd., S. 214). Der Unterschied ist der zwischen Wirklichkeit und Spiel: Wirklichkeit bzw. Unwirklichkeit machen die reale Welt bzw. die Welt des Spiels aus. Die Unwirklichkeit der phantasierten Welt macht diese zur Quelle der Lust. Für Winnicott hingegen ist die Realität der Phantasiewelt von zentraler Bedeutung. Die Entwicklung des Kindes hin zur Schaffung eines Übergangsobjekts ist progressiv, weil sie ein reales Objekt betrifft und als signifikanter Entwicklungsschritt auf die Entdeckung des potenziellen Raumes verweist, des Raumes der Illusion, in dem das erste Objekt und später das Spiel zum Leben erwachen. Winnicott und Freud untersuchen das unbewusste Leben und seine Beziehung zur sogenannten Realität. Beide stimmen darin überein, dass ein Übergewicht der Phantasien Krankheit und Pathologie nach sich zieht. Der entgegengesetzte Pol hingegen, charakterisiert durch Illusion, durch den Gebrauch von Symbolen und durch Symbolisierung, wird für Winnicott zum Dreh- und Angelpunkt seines generellen Verständnisses der Psychoanalyse. Indem er das Träumen mit dem Leben verbindet, ermöglicht der potentielle Raum Gesundheit, Lebendigkeit und die fortgesetzte Ausgestaltung neuer Objekte. III. Abc. Marion Milner und zeitgenössische Weiterentwicklungen durch Alvarez und Parsons Marion Milners Interessen weisen Ähnlichkeiten mit und Entsprechungen zu Winnicotts Konzepten des potenziellen Raumes und der Übergangsphänomene auf. Auch Milner beschäftigte die Frage, wie die Verwendung von Symbolen durch das kreative Spiel ermöglicht wird, das zu Beginn des Lebens den Raum zwischen Mutter und Baby erschließt. Ihr Artikel „Aspects of symbolism in the comprehension of the Not-Self“ erschien ursprünglich 1952 in der als Festschrift zu Melanie Kleins 70. Geburtstag veröffentlichten Ausgabe des International Journal of Psychoanalysis .

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