Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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gegenüber Freuds Denken ist Solms Vermutung, dass die Handlungsmotivation oder das Drängen auf Aktion als Ausdruck eines basalen Bedürfnisses den Trieb konstituiert, so dass es ebenso viele Triebe wie Affektsysteme gibt.

IV. Fb. Joseph Fernando – zeitgenössische ich-psychologische Perspektive: Zeroprozess-Trieb Von Joseph Fernando (2009, 2012) stammt das Konzept des Zeroprozesses (zero process) als eine zusätzliche Möglichkeit zum Primär- und Sekundärvorgang, das posttraumatische psychische Geschehen – die Art und Weise, wie die Psyche sich selbst organisiert – zu konzeptualisieren. In seinen späteren Schriften entwickelte Fernando (2018a, 2018b, 2023) das Konzept eines Zeroprozess-Triebs (zero process drive) und der Zeroprozess-Abwehr , deren Interaktion zu Formen des Trieb-Abwehr-Konflikts und der Kompromissbildung führt, die den Trieb-Abwehr-Konflikten von Primär- und Sekundärvorgang (Es und Ich) analog ist, sich aber dennoch von ihnen unterscheidet. Fernando (2012, 2018b, 2023) erläutert, dass zwar viele Autoren spezifische Formen des post-traumatischen psychischen Funktionierens beschrieben und erörtert haben (z. B. Bion 1962; Winnicott 1974; De M’Uzan 2003), eine detailliertere ich- psychologische Analyse des Geschehens während einer Traumatisierung und im Anschluss daran aber weitere Erkenntnisse, auch über den Wiederholungszwang, zeitigen könne. Auf dem Höhepunkt des Traumas werden zahlreiche höhere Ich- Funktionen, z.B. die Integrations- und Koordinationsfunktionen sowie die Symbolisierungsfähigkeit, ausgeschaltet. Laut Fernando bleiben post-traumatische Erinnerungen zwar als Erinnerungen erhalten, werden aber infolge dieser spezifischen Defizite eher wie aktuelle Erfahrungen oder Zukunftserwartungen erlebt. Zum Beispiel können Zeroprozess-Erinnerungen nicht wie reguläre Erinnerungen vor- und zurück“gespult“ werden; einmal aktiviert, entziehen sie sich der Kontrolle des Individuums und laufen wie äußere Erfahrungen ab. Indem sie „einfach geschehen“ oder „kurz davor sind, zu geschehen“, präsentieren sich Repräsentationen und Strukturen des Zeroprozesses als eigenständige Aktions- und Initiativzentren. Als deren eindrucksvollste sind zweifellos die für die dissoziative Identitätsstörung (DIS) typischen Alter-Persönlichkeiten zu betrachten; Beispiele für eher übliche Zeroprozess- Strukturen sind Introjekte. Fernando (2018b, 2023) hat dieses kontinuierliche Drängen, Zeroprozess-Erinnerungen in Erleben zu verwandeln, als Zeroprozess-Trieb charakterisiert. Er behauptet, dass Zeroprozess-Strukturen wie Alter-Persönlichkeiten, Introjekte und Über-Ich aufgrund ebendieses Triebs nicht nur das Gefühl vermitteln, eigenständige Zentren der Initiative zu sein, sondern es in der Realität tatsächlich sind. Fernando (2023) vertritt die Ansicht, dass der Drang zur Wiederholung des Traumas nicht aus dem Todestrieb herrühre, sondern Teil eines normativen Heilungsprozesses sei, in dem die Zeroprozess-Erinnerungen, die nach dem Trauma zurückbleiben, auf Aktualisierung in vollem Umfang drängen, damit sie Teil der Vergangenheit des Individuums werden können. Im blanden Trauma (Furst 1978;

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