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Fernando 2023) gelangt dieser Prozess der nachträglichen Konstruktion der unkonstruierten Traumaerfahrung im Laufe vieler Monate durch repetitive Träume und erneutes Durchleben zu einem Abschluss, und die traumatischen Zeroprozess- Erinnerungen werden zu eher regulären Erinnerungen an die Vergangenheit. In vielen Fällen aber wird die Wiederholung durch Dissoziation, Verdrängung und andere Abwehrmechanismen abgebrochen, weil das erneute Durchleben als überwältigend empfunden wird. So entsteht die Situation eines ständig aktiven, aber nie Befriedigung findenden Drangs, die posttraumatischen Zeroprozess-Erinnerungen als aktuelle Erfahrungen zu aktualisieren. Im Gegensatz zu den libidinösen und aggressiven Trieben besitzt der Zeroprozess-Trieb keinen ererbten Kern; vielmehr wird er aus traumatischen Erfahrungen jedes Mal quasi neu geboren. Er bleibt stark an die spezifischen, unverarbeiteten, präsymbolischen, unintegrierten posttraumatischen Erinnerungen an das spezifische Trauma gebunden, das zu seiner Entstehung geführt hat (siehe die Einträge SYMBOLISIERUNG und ICH-PSYCHOLOGIE). Der Zeroprozess-Trieb verfügt weder über die Geschmeidigkeit noch über die Plastizität der Sexual- und Aggressionstriebe. Während das Objekt und sogar die Ziele der Libido sich ein wenig verändern können, bleibt der Zeroprozess-Trieb selbst in Sublimierungen näher an den unverarbeiteten Erinnerungen an das Trauma. Ebenso wie die Libido drängt er ständig auf neuerliche Triebbesetzung und Aktualisierung der Zeroprozess-Erinnerungen. Diese Ähnlichkeit bedingt eine weitere wesentliche Ähnlichkeit: Ebenso wie es im Zusammenhang mit den klassischen Sexual- und aggressiven Trieben Trieb-Abwehr-Konflikte gibt, die zu Kompromissbildungen (Phantasien, Symptomen, Handlungen) führen, gibt es auch Konflikte zwischen dem Zeroprozess-Trieb und der Abwehr. Was wie einfache Wiederholungen des Traumas aussieht, sind laut Fernando (2023) in Wirklichkeit Kompromissbildungen zwischen Zeroprozess-Trieb und Abwehr. Betroffene leben gewöhnlich frühe Teile des Traumas aus, d.h. Teile, die dem Zeitpunkt der vollständigen traumatischen Überwältigung und dem „Shutdown“ des Ichs vorangingen. Letzterer wird zumeist in die Zukunft verlegt, so wie Winnicott (1974) es in seinem Beitrag „Fear of breakdown“ beschrieben hat: Die gefürchtete Katastrophe hat bereits stattgefunden, ist aber nicht als Erinnerung erhalten geblieben. Fernando (2018b, 2023) beschreibt eine spezifische, mit der Angst vor dem Zusammenbruch einhergehende Abwehr, die er als Zeitverschiebung ( temporal shifting ) bezeichnet. Diese Abwehr nutzt die für die Zeroprozess-Erinnerungen charakteristische Qualität des „noch nicht geschehen“ bzw. des „im Begriff zu geschehen“, um den Höhepunkt des Traumas in die Zukunft zu verschieben und das Gefühl zu erzeugen, in einer Zeit unmittelbar vor dem Trauma zu leben, in der das Ich noch nicht zerschlagen und Kontrolle nach wie vor möglich war. Eine solche Zeitverschiebung ist Teil der Kategorie von Abwehrmechanismen, die Fernando (2018, 2023) als Zeroprozess-Abwehr bezeichnet. Diese Mechanismen machen sich verschiedene Eigenschaften des Zeroprozesses zu Abwehrzwecken zunutze, in diesem Fall die Qualität des „noch nicht geschehen“. Die Dissoziation, ein weiteres Beispiel,
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