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sich und unerkennbar (im Kantschen Sinne) anzusehen, wird es durch das Zeichen O denotiert“ (Bion 1997 [1965], S. 35). Man könnte diese Sätze auch im Sinne des Koans Yun-Mens lesen: Wenn du gehst, gehe; wenn du sitzest, sitze; vor allem schwanke nicht . Das heißt, wenn Patient und Analytiker sich die Hand geben, geben sie sich die Hand; vor allem: denke nicht darüber nach (bevor die Sitzung zu Ende ist). Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist die Original- (O)situation von Patient und Analytiker bedeutungsleer, weil sie existiert, bevor Bedeutung (gemeinsam) konstruiert wird. Infolgedessen ist die Situation nicht direkt deutbar; sie ist etwas, das in der Welt geschieht und durch das Zeichen O repräsentiert wird. Bion betonte, dass an der klinischen Gesamtsituation immer sowohl Patient als auch Analytiker beteiligt sind: „In der Psychoanalyse kann jedes O, das nicht Analytiker und Analysand gleichermaßen gemeinsam ist und das deswegen nicht beiden für Transformation zugänglich ist, als irrelevant für die Psychoanalyse beiseite gelassen werden. Kein O, das nicht beiden gemeinsam ist, kann psychoanalytisch untersucht werden; alles, was den Anschein des Gegenteils hat, beruht auf einem falschen Verständnis des Wesens psychoanalytischer Deutung“ (ebd., S. 75). Bion wollte den Beobachtungsvertex der unmittelbaren, fortlaufenden Evolution der Sitzung als primäres Feld des Kontakts mit dem Patienten und der Beobachtung des Patienten privilegieren. Dieses Feld definiert sowohl den Patienten als auch den Analytiker als Teilnehmer-Beobachter. Vor allem diese Überlegungen fundieren Bions Betonung der analytischen Arbeit im Hier und Jetzt und spielen somit eine größere Rolle als die durch die Konzepte Übertragung und Gegenübertragung nahegelegten Erwägungen, die ihrerseits wiederum Versionen der Transformationen von Phänomenen, die im Feld beobachtet wurden, darstellen. Bion schrieb, dass der Psychoanalytiker (anders als etwa ein kognitiver Verhaltenstherapeut) für seine Beobachtungen auf die Entwicklung einer psychoanalytisch geschulten „Intuitionsfähigkeit“ angewiesen ist, die z.T. durch seine theoretischen Auffassungen geprägt wird. Er schrieb: „Bisher habe ich gesagt, daß O für TAα und TPβ zugänglich sein muß, und ich habe hinzugefügt, daß die Transformation des Patienten immer das O sein muß, was transformiert wird […]. Der Analytiker aber muß eine Auffassung der psychoanalytischen Theorie der Ödipus- Situation haben. Sein Verständnis dieser Theorie kann als Transformation ebendieser Theorie angesehen werden, und in diesem Fall lassen sich all seine Deutungen, verbalisiert oder nicht, von dem, was in einer Stunde vor sich geht, als Transformationen eines O betrachten, das bipolar ist. Ein Pol von O ist geschulte Fähigkeit der Intuition, die so weit transformiert wird, daß sie das, was in der Analyse vor sich geht, begleiten kann. Der andere Pol besteht in den Tatsachen der analytischen Erfahrung, die transformiert werden muß“ (Bion 1997 [1965], S. 76). Das heißt, der Analytiker muß bestimmen, zu welchem Grad die tatsächliche Situation der z.B. durch die Theorie des Ödipuskomplexes organisierten, geschulten Intuitionsfähigkeit des Analytikers entspricht. Bions letztes psychoanalytisches Buch, Attention and Interpretation (deutsche Ausgabe: Aufmerksamkeit und Deutung ) ist eine Fortführung
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