Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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seiner Erforschung des Wesens von O in der Psychoanalyse und darüber hinaus (Bion 2006 [1970]).

II. Df. Transformationen und emotionale Wahrheit Das Wesen von O mit Blick auf die Psychoanalyse ist Emotion und emotionale Erfahrung. Um nur zwei von zahlreichen Beispielen zu zitieren: „In unserer Arbeit muss O immer eine emotionale Erfahrung sein, denn in der Psychoanalyse nehmen wir an, dass Patienten zu uns kommen, weil sie Hilfe wegen einer emotionalen Schwierigkeit benötigen und deshalb wahrscheinlich darüber sprechen wollen“ (Bion 1963b, V, S. 106). Und: „Psychoanalytische Theorien, die Aussagen des Patienten oder des Analytikers sind Repräsentationen einer emotionalen Erfahrung“ (1997 [1965], S. 58). Für Bion ist emotionale und daher psychische Realität Wahrheit. Grotstein (2007) bezeichnete Wahrheit als „die Invariante“ und Emotion als „Träger oder Container der Wahrheit“ (S. 218). Häufig wirft die Wahrheit überwältigende psychische und existenzielle Konflikte auf – man muss sie entweder defensiv meiden oder zerstören, um sie überleben, anerkennen, ertragen und erleiden zu können, damit Psyche und Persönlichkeit überleben, wachsen und sich entwickeln können. Hier klingen Freuds „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ (Freud 1911b) direkt an. In jenem Beitrag beschreibt Freud Realitäts- und Lustprinzip. Je größer die durch die emotionale Realität drohende Gefahr, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass das Lustprinzip eine aktive Abwehr dagegen aktiviert. Freuds Theorie hat Bions Beschreibung der psychischen Entwicklung geprägt. Emotionale Überwältigung, Katastrophe, Vernichtung, Furcht zu sterben, namenlose Angst und andere ähnlich Zustände der Frustrationsintoleranz veranlassen die Psyche, diese unerträgliche Wahrheit zu zerstören oder vor ihr zu fliehen. In seinem Raster platzierte Bion die psychische Funktion der Bekämpfung der Wahrheit um jeden Preis in Spalte 2. Er beschrieb eine letzte verzweifelte Abwehr vor der Psychose, in der die primitive Psyche ihre eigene Denkfähigkeit angreift, indem sie Verbindungen attackiert (Bion 2013 [1959]). Er rückte erneut den Ödipuskomplex in den Fokus, indem er die Ansicht vertrat, dass die neugierige Wahrheitssuche von Analytiker und Patient eine arrogante Dummheit offenbare, nämlich ihre Überzeugung, anders als Ödipus in der Lage zu sein, das, ihrer Entdeckung ins Gesicht sehen, sie verstoffwechseln und über sie nachdenken zu können (Bion 2013 [1958]). Wenn psychoanalytische Beobachtung und klinische Arbeit in diese tiefen Bereiche und Ängste vordringen, empfinden u.U. beide Teilnehmer wachsende Angst und Panik. So schrieb Bion (2010 [1990]) einmal: „Im Behandlungszimmer sollten sich grundsätzlich zwei verängstigte Personen aufhalten: der Patient und der Psychoanalytiker“ (S. 15). Die Fähigkeit, emotionale Wahrheit durch Denken zu transformieren, ist somit überlebenswichtig.

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