Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Ebenso wie zahlreiche andere nordamerikanische und internationale Autoren (Dunn 1993; Hadley 1992; Schwartz 1987; Solms 2012) misst auch Kulish der inneren Welt der Objekte und der äußeren interpersonalen Umwelt wachsende Bedeutung für die Ausgestaltung der Triebe bei. So gelangt sie zu der Auffassung, dass Trieb und Objekt, Trieb und Umwelt nicht voneinander getrennt werden können. Was diese Untrennbarkeit von Trieb und Objekt betrifft, so bezieht sich Kulish auch auf Loewald (1971a, b, 1985), der die Libido als eine dem Ich entstammende Kraft versteht, durch die es sich mit der Welt, von der es sich differenziert, zu verbinden bestrebt ist. Infolge des von Grund auf kommunikativen Charakters der Triebe schreibt das Individuum wichtigen Anderen in der libidinösen Interaktion mit ihnen Bedeutung zu. Auf diese Weise wird die analytische Situation zu einem erotischen Feld (in breitem Sinn): „So gesehen ist die Übertragungsneurose das Liebesleben des Patienten – die Quelle und Crux seiner psychischen Entwicklung –, wie er es gegenüber einem potentiell neuen Liebesobjekt, dem Analytiker, aufs neue durchlebt“ (Loewald 1986 [1971b], S. 307). Die Sexualität ist hier eingebunden in die Beziehungen zu Objekten und aufs engste verbunden mit deren Bedeutungen . Komplizierter ist der Einfluss, den Jean Laplanche (1997, 2004, 2007) mit seiner Theorie der Urverführung auf Kulishs Denken ausgeübt hat. Kulish arbeitet speziell mit Laplanches Erweiterung der Freud’schen „Anlehnung“, also Freuds Annahme, dass sich die Sexualtriebe an die ursprünglichen, während der Versorgung des Kindes durch die Mutter befriedigten Selbsterhaltungstriebe „anlehnen“: Das Kind nimmt verwirrende, rätselhafte Empfindungen wahr, die es weder verstehen noch zu integrieren beginnen kann; dennoch wecken sie seine eigenen sexuellen Gefühle und Bedürfnisse und beginnen sie zu prägen. So wird zusätzlich zu den von Freud angenommenen Körperzonen eine sinnliche/sexuelle angeborene Responsivität stimuliert. Was vom menschlichen Säugling als Sexualität zuallererst aufgenommen wird, ist daher etwas Mysteriöses, Überwältigendes und Unausgesprochenes. Während diese infantile (durch die Phantasie vermittelte), ihrem Wesen nach rätselhafte Sexualität laut Laplanche nicht angeboren ist, sondern durch die Andere implantiert wird und somit konstruiert wird, geht Kulish von angeborenen, endogenen und kontinuierlichen sexuellen Quellen im Säuglingsalter und in der frühen Kindheit aus. Dies stimmt mit neuen Erkenntnissen über die Hormonspiegel, die für die Sexualität der Kindheit eine Rolle spielen, überein. In den ersten Lebensmonaten sind die Hormonspiegel hoch, um dann abzunehmen. Kulish postuliert eine generelle Erregbarkeit von frühester Kindheit an; damit diese aber zu einem determinierenden Faktor in der Entwicklung werden kann, ist noch etwas anderes erforderlich (Kestenberg 1976; Hadley 1992). Manche Neurowissenschaftler (Panksepp und Biven 2012) sprechen von mehreren angeborenen Motivationssystemen, z.B. einem LUST- und einem SUCH-System, die zusammenarbeiten und möglicherweise an infantilen sexuellen Erfahrungen beteiligt sind. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Kulish eine Prägung des (Sexual- )Triebs durch Andere, nicht aber seine Konstruktion durch Andere annimmt .

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