Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Um die Paradoxie zu überwinden, muss man die Hypothese anerkennen, dass der Symbolisierungsprozess, der die Abwesenheit des Objekts ermöglicht, nicht mit dem Symbolisierungsprozess identisch ist, der durch die Abwesenheit des Objekts ermöglicht wird. Es muss also einen Symbolisierungsmodus geben, der sich in Anwesenheit des Objekts, in der Begegnung mit ihm und nicht nur in seiner Abwesenheit, vollziehen kann, einen Symbolisierungsmodus, der die Art und Weise der Anwesenheit des Objekts und die Art und Weise der Begegnung, die in seiner Gegenwart stattfindet, symbolisiert. Bestimmte Sprachmodi, die auf Gegenwart, auf Begegnung, beruhen, haben Präsenz zur Voraussetzung und liegen Symbolisierungsmodi zugrunde, die auf Präsenz beruhen, z.B. die nonverbalen Sprachmodi der frühen Phase. Das Traummodell, das Modell der nächtlichen primären Symbolisierungsarbeit, muss daher durch ein Modell der diurnalen primären Symbolisierung in Anwesenheit des Objekts ergänzt werden. Symbolisierung kann nicht länger lediglich als Symbolisierung von Abwesenheit betrachtet werden, die eine frühere, auf Anwesenheit und Begegnung beruhende Repräsentationsform voraussetzt. Dies ist der Grund, weshalb die Hypothese einer „primären“ Symbolisierung in Frankreich entwickelt wurde. Der Begriff wurde von André Green (1970) eingeführt, später von Didier Anzieu (1987) benutzt und schließlich von René Roussillon (1991, 1997, 2015 [2015]) und dem Forschungszentrum der „Bibliothèque D. Anzieu“ in Lyon theoretisch ausgearbeitet und signifikant weiterentwickelt. Die Formen der primären Symbolisierung wurden in Frankreich in der psychoanalytischen Praxis erforscht. Ihre Erweiterungen außerhalb der ausgetretenen Pfade der Neurosenwelt seit den 1970er und 1980er Jahren sind für das psychische Funktionieren archaischer Erfahrungsrelikte charakteristisch, die nicht ins übrige Ich integriert wurden. Schon 1975 schlug Piera Aulagnier im Rahmen ihrer Untersuchung psychotischer Prozesse den Begriff „Piktogramm“ für die frühen Formen dieses Symbolisierungsmodus vor (Aulagnier 1975). Das Piktogramm ist eine Repräsentation, die durch eine Untrennbarkeit von Körperraum, psychischem Raum und äußeren Raum sowie durch ein Verschmelzen von Affekt und Repräsentation definiert ist. Es taucht als halluzinierte Sensation auf und ist immer, vor jeder Differenzierung zwischen Psyche und Soma, mit einem Körperfragment verbunden. Die „leibliche Figuration“ des Piktogramms wird durch ihre Transformation in die „szenische Figuration“ im Register der primären Symbolisierung fassbar (Brun & Roussillon 2014). Didier Anzieu (1987) schlug für Prozesse ohne Subjekt oder Objekt, die die erste „Sensation-Form-Bewegung“ der ersten Formen psychischer Registrierungen repräsentieren, den Begriff „formale Signifikanten“ vor. Diese Prozesse betreffen die symbolische Registrierung der Schnittstelle der ersten Begegnungen des menschlichen

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