Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Vernichtungsgefahr allzu absolut ist und gemäß dem Alles-oder-nichts-Prinzip erlebt wird, taucht ein Gefühl der Desintegration auf. Wenn der Angriff jedoch „Stück für Stück“ erfolgt, kann er in den Dienst subjektiver Integration gestellt werden. Roussillon ist überzeugt, dass Freud ab 1915 wesentlich sensibler für den Stellenwert und die Funktion des äußeren Objekts im Aufbau der Psyche war, als häufig angenommen wird, und dass D. W. Winnicott und W. R. Bion ihm in dieser Hinsicht folgten. V. B. FRANZÖSISCHE TRADITION IN KANADA UND DEN USA Nordamerikanische französischsprachige Analytiker halten an der postulierten engen Beziehung zwischen Trieb und Unbewusstem fest. Ein wichtiges Thema ist die gründliche Untersuchung der „Konstruktion“ eines Triebs aus basalen physiologischen Reflexen. Der Trieb wird als wandelbar und in ständigem Übergang begriffen betrachtet; er durchdringt die gesamte psychische Aktivität und wird in bestimmten intersubjektiven Erfahrungen neu erzeugt. Somit ist das Unbewusste selbst in seinen archaischsten Manifestationen nie reine, ungebundene Instinktenergie (instinctual energy), sondern als Trieb (drive) von Grund auf charakterisiert durch die früheste Abhängigkeit des Menschen von bestimmten erwachsenen Anderen; es trägt die Spuren dieser Abhängigkeit in sich. Viele verschiedene Autoren der französischen Tradition, die z.T. schon im vorangegangenen Absatz genannt wurden, weil sie in Nordamerika einflussreich sind, wurden von Bernard Brusset (2006) rückblickend unter die metapsychologische Rubrik der „ dritten Topik “ eingruppiert. Brusset nimmt hier Bezug auf die beiden vorangegangenen Freud’schen Theorien, d.h. auf die topische Theorie (erste Topik) und die Strukturtheorie (zweite Topik). Was die Triebe betrifft, so besagt die dritte Topik, dass die „Zwei-Personen-Psyche“ im Laufe der Entwicklung zu der „Eine- Person-Psyche-im-inneren-Konflikt“ des freudianischen Subjekts voranschreitet, das seine Triebe als eigene anerkennt. Die dritte Topik postuliert einen Zustand in der Prähistorie des Individuums, in dem die Psyche von der „hinreichend guten“, containenden Anwesenheit der Bezugsperson abhängig ist, die es dem Baby erlaubt, die libidinösen und aggressiven Impulse als nicht-traumatische Selbstanteile anzuerkennen und sich, ausgehend vom Denken des Primärvorgangs, in dem Wünsche erfüllt werden, weiterzuentwickeln und Wünsche in einem Übergangsraum der Illusion und Metapher mit dem Potenzial, zu träumen, zu phantasieren und kreativ zu sein, zu erleben. Zu dieser Gruppe zählen Green, Laplanche, Scarfone, Denis, Anzieu, Anzieu- Premmereur, deren unterschiedliche Triebkonzepte unten illustriert werden, aber auch zwei englischsprachige Autoren, nämlich Winnicott und (von kanadisch-französischen Analytikern neu hinzugefügt) Loewald. Zusammen mit diesen Erweiterungen werden die Theorien der im letzten Abschnitt beschriebenen französischen Autoren hier noch einmal unter dem Blickwinkel der „dritten Topik“ behandelt.

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