Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Produktion von Bedeutungen und Wörtern sowie deren Auswirkungen im Körper. Jeder Gedanke (Konzeption) bezieht sich auf einen unbestimmten Zustand, eine Gesamtheit, die jederzeit offen für Veränderung ist und durch eine referentielle Verbindung konstituiert wird, in der „Container“ und „Containt“ ständig an den Grenzen der Fähigkeit der Alpha-Funktion miteinander interagieren – eine Erweiterung der Interaktion zwischen Mutter und Baby durch die Reveriefunktion im Leben. Diese referentielle Verbindung ist für den analytischen Prozess von fundamentaler Bedeutung. Sie äußert sich als Unbestimmtheit in der Psyche und in der Psychoanalyse durch Transformationen des Assoziationsprozesses. Wenn z.B. ein Patient einen Traum schildert, kann niemand vorhersagen, welche Assoziationen auf den Traum folgen und wohin sie führen werden. In ähnlicher Weise kann niemand vorhersagen, welche Veränderungen von einem psychischen Zustand in einen anderen sich im Anschluss an eine Deutung ergeben werden. Dies ist das ethisch-ästhetische Prinzip der Unbestimmtheit , das einem Prinzip der Unvollständigkeit hinzuzufügen ist. Eine weitere Konsequenz dieser Verbindung ist der unendliche Charakter ihrer Entwicklung, von Chuster (1999, 2002, 2014, 2018) als Prinzip der Unendlichkeit bezeichnet. Dies ermöglicht es, sich vorzustellen, dass das menschliche Unbewusste zwangsläufig über das, was von dem Begriff des „freudianischen Unbewussten“ abgedeckt wird, hinausgeht. Wenn man z.B. vom Unbewussten spricht, bedeutet dies, dass es bereits außerhalb des Subjekts ist. Das Unbewusste hat sich bereits ausgedehnt und verlangt eine neue Deutung. Es ist notwendig, einen anderen Begriff in die Diskussion einzuführen: Bion kommt der Ausdruck unzugänglich am nächsten, so dass man Unzugänglichkeit als ein weiteres ethisch-ästhetisches Prinzip betrachten kann. Die für die Psychoanalyse wichtigste Präkonzeption ist die ödipale Präkonzeption , denn sie schließt alle übrigen ein. Auch diesbezüglich besagt das Komplexitätsprinzip, dass man über den Bereich der klassischen Anwendung der Theorie des Ödipuskomplexes hinausdenken muss. Wenn z.B. der Analytiker zum Ödipusmythos assoziiert, werden diese Assoziationen in unterschiedlichen Momenten seiner Praxis niemals dieselben sein; ebensowenig kann man vorhersagen, wohin sie führen werden. Eine weitere wichtige Eigenschaft der ödipalen Präkonzeption ist ihr konstanter Bezug zum Psychischen. Zum Beispiel sucht das Baby zuerst die Psyche der Mutter, um zu der physischen Brust zu gelangen, und nicht umgekehrt. Die ödipale Präkonzeption bildet somit ein Dreieck: die Psyche des Babys, die Psyche der Mutter und die Brust. In dem dreidimensionalen Raum, den die Mutter für die Präkonzeption des Babys offenhält, taucht eine Konzeption auf. In diesem Raum der Hervorbringung fühlt das Baby den Rhythmus der Milch, fühlt es Zärtlichkeit und Liebe. Es ist diesem Modell zufolge nicht schwierig zu verstehen, weshalb manche Kinder nicht erfolgreich an der Brust trinken können, wenn die Mutter psychisch abwesend ist, oder warum in vielen Menschen eine Dissoziation zwischen Materiellem und Psychischem besteht (Bion 1990 [1962]).

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