Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Übertragung – sich als nicht ausreichend erweist“ (S. 324; Hervorhebungen ergänzt). Kernbergs (1965, 1975) Sichtweise der Gegenübertragung hat sich nach und nach entwickelt; im Laufe der Zeit gewann das Phänomen für ihn zunehmend an Bedeutung, vor allem bei der Arbeit mit Borderline-Patienten. Hatte er 1965 noch vor der Gefahr einer Erweiterung des Konzepts „Gegenübertragung“ auf alle emotionalen Reaktionen des Analytikers gewarnt (mit der Begründung, dass das Konzept dadurch seiner spezifischen Bedeutung verlustig gehe), erkannte er die konstruktive analytische Arbeit der Gegenübertragungsdeutung 1975 an und hob sie hervor. Insbesondere bei der Arbeit mit Borderline-Patienten muss der Analytiker mit eigenen (bisweilen) starken inneren Reaktionen auf die vom Patienten projizierten extrem primitiven Objektbeziehungen fertig werden. In seiner Darstellung der von ihm konzipierten „Übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP)“ beschreibt er es als Aufgabe des Behandlers, auf die Übertragungsreaktionen des Patienten zu fokussieren und gleichzeitig die eigene Gegenübertragung unausgesetzt zu beobachten und zu kontrollieren. Diesem Modell gemäß deutet der Analytiker von der Position des „Dritten“ aus, indem er die Interaktion beider am Dialog Beteiligter kommentiert. Mitchell (1993, 1997), ein ausgesprochen produktiver Autor, der theoretisch zwischen Objektbeziehungs- und relationaler Theorie zu verorten ist, vermittelt einen überzeugenden Eindruck von den Gegenübertragungsaffekten als Antriebskraft psychischer Entwicklung und Veränderung . Seine Vignetten betreffen häufig analytische Paare in Momenten hoffnungsloser Verzweiflung. Ohne diese Hoffnungslosigkeit, so Mitchell, fühlte der Analytiker sich nicht gezwungen, die Arbeit zu leisten, die notwendig ist, um den Prozess zu verstehen, der zu solchen Sackgassen führt. An dieser Arbeit sind grundsätzlich zwei Sprecher mit Autorität beteiligt. Aktuell finden in und zwischen den verschiedenen theoretischen Richtungen innerhalb dieser breit fundierten klassischen Tradition Diskussionen über den Status, die Funktion und die Grenzen der Gegenübertragungsanalyse statt (Gabbard 1982, 1994, 1995). Jacobs (1993) theoretische Arbeit über die Verwendungen der Gegenübertragung des Analytikers stützt sich auf Objektbeziehungstheorien, zeitgenössische Freudianer (Sandler 1976) und Selbstpsychologie. Jacobs war der Ansicht, dass die Gegenübertragung in vielfältiger, multipel konfigurierter Form auftaucht und dass sie (auf ihre eigene Weise) ebenso aufschlussreich und problematisch ist wie die Übertragung. Seiner Meinung nach ist das gesamte Instrumentarium des Analytikers, die kreative Arbeit mit Körper, Geist, Phantasie und interpersonaler Erfahrung, für die analytische Arbeit entscheidend. Die Gegenübertragung ist hierbei kein Problem, sondern eine (partielle) Lösung, ein notwendiger Teil der Arbeit. Jacobs Verwendung der analytischen Subjektivität setzt die subtilen, alles durchdringenden Kommunikationen voraus – Metakommunikationen, bewusste, vorbewusste und unbewusste Kommunikationen –, die die Erfahrungen aller analytischen Paare untermauern und durchziehen. Eine so vielfältig ko-konstruierte Bedeutungsstiftung macht es unerlässlich, dass der Analytiker seinen eigenen Anteil an diesen komplexen Kommunikationen versteht und sehr

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