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Auf komplementäre und spiralförmige Weise sucht die ödipale Präkonzeption die Psyche der Eltern, um zu einer Vorstellung von der Realität der Familie zu gelangen, so wie die Familie die Gesellschaft und die Gesellschaft nach Verbesserungen der zahlreichen Ebenen sucht, auf denen Babys unterstützt werden. Wenn dies nicht in angemessenem Maße geschieht, verbringt das Individuum sein Leben u.U. in einem Zustand, in dem es Dinge fühlt, aber nicht er-leidet (erlebt, erfährt), was auch bedeutet, dass es seine Probleme nicht zu lösen vermag, weil es sie nicht erleben (sich keine Vorstellung von ihnen machen) kann. Die Realisierung der ödipalen Präkonzeption weist zwei Tendenzen auf: eine Tendenz zum „Sozial-ismus“ [social-ism] und eine ihr entgegengesetzte narzisstische Tendenz (Bion 2013 [1962], S. 134). Solche Tendenzen breiten sich in einem Spektralmodell aus, einem nicht-strukturierten Arbeitsfeld, und zählen zu den Facetten des psychoanalytischen Objekts. Ein praktischer Aspekt einer solchen spektralen Sicht hängt mit der Tatsache zusammen, dass Sozial-ismus voraussetzt, dass die Psyche der Möglichkeiten entsagt, die der Begriff Omnipotenz (narzisstischer Pol) bezeichnet. Dass ein Individuum „sozialisieren“ (d.h. zwischenmenschliche Beziehungen aufnehmen) kann, setzt beispielsweise voraus, dass es seine Überzeugung von einer einzigen Erklärung für Fakten aufgibt. Solche Überzeugungen reproduzieren die Erfahrung des Babys, der Mittelpunkt der Welt zu sein und unausgesetzt über die Brust verfügen zu können. Ohne den Verzicht auf diese Überzeugung, der ohne Tolerierung der frustrierenden Unvollkommenheit (Prinzip der Unbestimmtheit ) nicht möglich ist, können Menschenbabys die nächste Ebene der psychischen Erfahrung, das Denken, nicht erreichen. Denken ist ein Prozess, der die Anerkennung voraussetzt, dass zwischen zwei anderen, vom Kind getrennten Personen eine Verbindung besteht. Wird dieses dreidimensionale Konzept nicht anerkannt, ist „Sozial-ismus“ für immer unmöglich, und das Individuum wird nie in der Lage sein, die Vorteile, die eine dritte Person – zunächst der Vater, später die Familie und schließlich die Gesellschaft – mit sich bringt, zu genießen. Sie alle besitzen einen „Container“, der die Funktion der Mutter in jenen Bereichen, in denen sie unzulänglich ist, ergänzen. Alle ethisch-ästhetischen Prinzipien bringen menschliche Fähigkeiten und gleichzeitig deren Grenzen zum Ausdruck. Zwischen Fähigkeit und Grenzen findet eine ständige Interaktion statt. Die charakteristischen Eigenschaften der ödipalen Präkonzeption lassen vermuten, dass Bion mit seinen Überlegungen zu Transformationen (wobei Transformation gleichzeitig Erzeugung und Zerstörung von Formen bedeutet) anstelle des von Freud beschriebenen Untergangs des Ödipuskomplexes eine Evolution desselben wahrnahm (Chuster 2018). Das heißt, dass man in gewisser Hinsicht sagen kann, dass Bion die Zukunft der Menschheit von der wachsenden Fähigkeit abhängig machte, mit den simultan zunehmenden Unterschieden zwischen Menschen fertig zu werden. Chuster (2003) bezeichnete dies als ein ethisch- ästhetisches Prinzip der Singularität , um all die klaren Konfrontationen zu beachten und hervorzuheben, bei denen es unmöglich ist, über die Ursprünge der Fakten zu
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