Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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VI. Bf. Gustavo M. Jarast In 2006 erhielt G. Jarast den Premio FEPAL für seinen Artikel “En contra de la pulsión de muerte” [Gegen den Todestrieb], in dem er die Theorie vertritt, dass sich Triebe laut Freud (1950c [1895]) in der Bindungsbeziehung mit einem „Anderen“ entwickeln. Wenn Eros scheitert, bemächtigt sich nach und nach der Todestrieb der Psyche, was zum Tod führen kann. Schmerz/Unlust zapfen die Reserveenergie an, und das Trägheitsprinzip setzt sich gegenüber dem Konstanzprinzip durch. Der Selbsterhaltungstrieb kehrt in seinen vorherigen unbelebten Zustand zurück, während die Sexualtriebe das Leben unterstützen. Erreicht wird dies durch die Anwesenheit der Mutter, die das Bedürfnis nach Liebe befriedigt. Theoretische Unterstützung für seine Überlegungen findet Jarast in Winnicotts und Bions Denken. Die Reverie der Mutter führt zu primären Identifizierungen, der ersten affektiven Beziehung zu einer anderen Person. Der Reizschutz entwickelt sich. Wird diese Entwicklung nicht erreicht, gibt es kein Subjekt, das Schmerz/Unlust erleben oder über seine Angst nachdenken kann. Charakterstörungen, Süchte oder psychosomatische Störungen entstehen und sind dem stummen Todestrieb ausgesetzt. Die Sexualität wird in den Dienst von Thanatos gestellt. Die affektive Bindung kann durch die Übertragungsbeziehung wiederhergestellt werden, die die liebevolle Besetzung des Kindes verwirklicht, damit sich das Ich und die Subjektivität entwickeln können. Die verfügbare Bindungsfähigkeit der Mutter ermöglicht es, den Todestrieb zu neutralisieren und ihn für den Aufbau des psychischen Apparats zu nutzen. Gravierende Entgleisungen sorgen für die Aufrechterhaltung des in der Neurose aktivierten Tägheitsprinzips. Zuerst kann sich allein die hinreichend feinfühlige Mutter, später dann der Analytiker, in die Lage des Kindes bzw. des Kindes im Patienten versetzen und seine Bedürfnisse verstehen. Dann erst können das Kind / der Patient beginnen, zu existieren und eine Erfahrung zu haben, wie Winnicott (1967a, b) es beschrieb. Jarast erwähnt auch E. Bick, F. Tustin und D. Meltzer als weitere Autoren, die diese Zustände untersucht haben. Das Konzept der psychischen Haut und ihrer Funktion, die Teile des auftauchenden Selbst zusammenzuhalten, wurde von Bick formuliert, das Konzept des Autismus als defensive Form des Empfindens, um die Wiederholung unkontrollierbarer Gefühle nicht-mentalisierbarer Erfahrungen zu vermeiden, von Tustin. Jarasts multi- theoretische Ansatz integriert auch Meltzers Beobachtung, dass es Patienten gibt, die lediglich „zwei Oberflächen“, zwei Dimensionen, zu besitzen scheinen und über kein inneres Objekt verfügen, das sie containen könnte. Jarast berücksichtigt auch M. Kleins Konzept der Introjektion eines „guten Objekts“, das Angst erträglich macht. Der Analytiker hat Jarast zufolge die Aufgabe, der bislang stumm gebliebenen traumatischen Situation Gelegenheit zu geben, sich zu entwickeln, damit sie begreifbar gemacht und als Teil der Lebensgeschichte verstanden werden kann. Somit ist die Analyse ein Prozess, der dem Todestrieb entgegenwirkt, wie Baranger und Mom (1987) schrieben. Das klinische Vorgehen wird sich deshalb von dem „traditionellen“ unterscheiden. Insgesamt gesehen, betrachtet Jarast den analytischen Prozess, der im

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