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Diese primäre Wunde der körperlichen Trennung von der Mutter kann dann in anderen Trennungssituationen wieder aufbrechen. Laut Tustin (2008 [1990]) ist der Verlust des Existenzgefühls die größte Bedrohung, der sich ein Mensch ausgesetzt sehen kann. Diese Bedrohung ist schlimmer als der Tod. Angesichts des Todes lässt der Mensch den Körper zurück, doch die Gefahr, sein Existenzgefühl zu verlieren, bedeutet, dass nichts zurückbleibt. Bions späte Schriften zeugen von einem starken Interesse an den psychischen Zustanden des Embryos und den Manifestationen von Urphänomenen (Bion 1977*, 1979b, 1980, 1991/1992, 1997). 1975 stellte er in einem Meeting in Los Angeles folgende Fragen: “Können wir uns als Psychoanalytiker vorstellen, daß im menschlichen Geist – analog zum Körper – im Bereich des Sehvermögens Rudimente überlebt haben, die darauf schließen lassen, daß es einst Augengruben gab, oder im Bereich des Hörens Rudimente, die darauf verweisen, daß es einst Ohrengruben gab? Läßt irgendein Teil des menschlichen Geistes nach wie vor Hinweise auf eine ‚embryologische‘ – visuelle oder auditive – Intuition erkennen?“ (Bion 2009 [1989], S. 42) Laut Bion (1991/1992) sind die psychischen Äquivalente embryonaler Überlebsel sogar dann sichtbar, wenn der Mensch die entwickelte Funktion der Sprache einsetzt. Eine der fundamentalen Entdeckungen der Psychoanalyse ist der Kontakt mit diesen archaischen psychischen Zuständen, primitiven Verhaltensmustern und Manifestationen, die sogar bei den zivilisiertesten und kultiviertesten Personen zu entdecken sind. Später nahm Bion auch auf einen psychischen Zustand Bezug, in dem Ideen oder Gedanken gar nie bewusst und/oder unbewusst gewesen sind und dessen Ursprung unzugänglich bleibt: „Ich kann ihm nicht näher kommen als ihm einen vorläufigen Namen zu geben und ihn als unzugänglichen Zustand der Psyche zu bezeichnen“ (Bion 1997, S. 50). Im Zusammenhang mit Proto-Emotionen sprach Bion (1974, 1975) von „subthalamischer Angst“, einer Angst, die psychisch nicht kontrolliert wird und daher keine Bedeutung erlangt. „Subthalamische Angst“ bezeichnet die körperlichen Manifestationen von Überlebseln pränataler Anteile mit Beteiligung der Nebenniere und der Adrenalinausschüttung, die in bestimmten Momenten aktiviert werden und das Individuum, ohne dass es darüber nachdenkt, zu Kampf-Flucht-Reaktionen veranlassen. Korbicher vertritt die These, dass Bion in seinen letzten Schriften möglicherweise begann, auf diese Weise eine Kategorie von Phänomen zu formulieren, die Ähnlichkeit mit unintegrierten Phänomenen haben. Infolgedessen plädiert sie dafür, Phänomene dieser Art in die Theorie der Transfomation einzubeziehen. Unintegrierte Transformationen sind laut Korbivcher charakterisiert durch intensive nicht-mentale körperliche Manifestationen. Sie entwickeln sich in einem unintegrierten Bereich und bewirken das Verschwinden der Grenzen des Selbst und der Wahrnehmung eines getrennten Objekts. Ein Zustand unausgesetzter Bedrohung und Vulnerabilität sowie die panische Angst, das Gefühl, existent zu sein, zu verlieren, sind Invarianten unintegrierter Transformationen.
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