Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

stimmen in unterschiedlich konzeptualisierten und formulierten Grundthesen überein: Die Übertragung ist die zumeist unbewusste Reaktion des Patienten auf den Analytiker. Sie ist geprägt durch seine frühen Lebenserfahrungen, zu denen auch internalisierte Selbst- und Objektrepräsentationen zählen können, die durch Traumata, Leidenschaften, Phantasien und Konflikte beeinflusst wurden; sie kann auch als Ausdruck eines Wunsches konzeptualisiert werden, überdeterminierte Objektbeziehungsphantasien wiederzubeleben oder zu aktualisieren. Die Unterschiedlichkeit der Formulierungen spiegelt eine Pluralität theoretischer Konzeptualisierungen sowohl repetitiver als auch interaktiver Übertragungsaspekte mit Blick auf den Inhalt /die Inhalte , die Mechanismen und die Methodologie der klinischen Begegnung im Kontext des psychoanalytischen Settings wider. In diesem Eintrag untersuchen wir zunächst die mehrdimensionale Entwicklung des Konzepts; abschließend werden einige Übereinstimmungen skizziert, die sich in der aktuellen theoretischen und klinischen Pluralität quer über alle Kontinente zu erkennen geben.

II. URSPRUNG DES ÜBERTRAGUNGSKONZEPTS BEI FREUD

Das Konzept der Übertragung geht auf eine Zeit zurück, in der sich die Psychoanalyse entfaltete und sich von Hypnose, Suggestion und kathartischer Methode distanzierte, wenngleich das Problem der psychischen Transmission bestehen blieb und später wiederauftauchte, um dann unter dem Aspekt dem Telepathie untersucht zu werden. Als Freud Bernheims Abhandlung „De la suggestion et de ses applications à la thérapeutique“ (1886) übersetzte, wählte er für den auf dem Gebiet der Hypnose gebräuchlichen Begriff „transfert“ das Wort Übertragung. In der Traumdeutung (Freud 1900) taucht es im Kontext der Traumarbeit, genauer: der Verkleidung, auf und bezeichnet die Verschiebung eines verdrängten, in triviale, den „gleichgültigen Abfällen des Tages“ (S. 594) entlehnte Gestalt gekleideten Wunsches. Mithin besteht die Übertragung erstens aus der Verschiebung einer Quantität an libidinöser Energie von einem Pol der Besetzung zum anderen, die die Sachlage verunklart und zum Beispiel die Unterscheidung zwischen manifestem Inhalt und latentem Inhalt erfordert, zugleich aber signalisiert, dass in sämtlichen Bereichen des psychischen Lebens der Wunsch in all seinen verschiedenen Formen aktiv und fähig ist, neue Verbindungen einzugehen. Diese ursprüngliche Hypothese taucht später wieder auf, allerdings nicht mehr mit Blick auf die Verkleidung, sondern auf die Erfüllung eines unbewussten Wunsches, sei es ein Liebeswunsch (erstmals und höchst augenfällig illustriert in der von Breuer durchgeführten Behandlung der Anna O.; vgl. Freud 1895) oder ein Vergeltungswunsch wie in der Behandlung Doras, in der Freud zum Ziel der Wiederkehr von Enttäuschung und Hass wurde (Freud 1905).

948

Made with FlippingBook - Online magazine maker