Zurück zum Inhaltsverzeichnis
Konfrontiert mit dem von Dora durchgesetzten Behandlungsabbruch sieht sich Freud gezwungen, sein Verständnis des Übertragungsphänomens zu überdenken (Neyraut 1974). Hatte er „die Übertragungen“ (Plural) zuvor als Bestandteil der Reproduktion früherer psychischer Zustände in Form von „Neuauflagen“ oder „Nachbildungen“ betrachtet – die unter Umständen eine „Sublimierung“ erfahren haben, die ihre Bewusstwerdung ermöglicht -, bezeichnet „die Übertragung“ (im Singular) fortan den Teil der analytischen Beziehung, der von Reminiszenzen erfüllt ist, die sich der Sprache und der Subjektivität entziehen und in Handeln übersetzt werden. Dies ist der Grund für die zentrale Rolle, die Freud schon im Dora-Fall der Deutung der Übertragung als Instrument zuschreibt, weil die Erhellung dieses Modus der halluzinatorischen Wunscherfüllung Zugang zu den dunkelsten Bereichen des libidinösen Apparates gewähren kann (Freud 1905). In seiner „Nachschrift“ zu der Fallgeschichte führt Freud Doras unerwartete Flucht aus der Behandlung auf seine eigene Unfähigkeit zurück, ihre Vaterübertragung auf ihn zu erkennen und zu deuten. Später hätte er sagen können, dass ihre Übertragung als Widerstand gegen die Analyse diente. Er betonte auch die Rolle der homoerotischen Übertragung, d.h. des zentralen Platzes der „anderen“ Frau. II. A. Freuds weitere Entwicklung des Konzepts Im Einklang mit der Entwicklung der analytischen Praxis wurde die Definition zunehmend komplexer. Die erste Veränderung vom Plural zum Singular verweist auf die Ubiquität des Phänomens; bald darauf schon und in engem Zusammenhang erfolgt ein weiterer Durchbruch (Freud 1909, 1912, 1914, 1915, 1917): Wenn die Übertragungen nicht länger „Neuauflagen“ sind, werden sie zu den „Klischees“ der Beziehungen aus der frühen Kindheit, d.h. der Patient durchlebt in seiner Beziehung zum Analytiker die konflikthaften Impulse, welche die Bindungen an seine Elternimagines geerbt haben. Solche Imagines werden in der positiven oder negativen Übertragung geliebt oder gehasst, sind Objekte der Zärtlichkeit und/oder Feindseligkeit, und sie geben sich zu erkennen in einer „neugeschaffenen und umgebildeten Neurose“ (Freud 1917a, S. 462), in deren Mittelpunkt der Patient den Analytiker stellt und die zum Schauplatz der Deutung wird (Freud 1912). Während Freud (1909) im Fallbericht über den „Rattenmann“ schon erwähnt hatte, dass zur Übertragung sowohl positive als auch negative Gefühle gehören können, legt er seine erste umfassende und ausformulierte Erklärung der theoretischen Seite des Phänomens- im Rahmen der (ersten) Topik – in seiner Abhandlung „Zur Dynamik der Übertragung“ (Freud 1912) vor. Hier hält er fest: 1. Die Übertragung geht aus dem Anteil libidinöser Triebstrebungen hervor, die keine Äußerung gefunden haben und/oder unbewusst geblieben sind; 2. die Übertragung ist ubiquitär und tritt nicht allein in der Psychoanalyse, sondern auch außerhalb der Behandlung auf. Der Unterschied besteht darin, dass sie in der Analyse zum Gegenstand der Untersuchung wird; 3 die Übertragung ist die „stärkste Waffe des Widerstandes“ (Freud 1912, S. 369); 4. die
949
Made with FlippingBook - Online magazine maker