Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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II. B. Ödipus und Hamlet, zwei Gesichter der menschlichen Übertragungserfahrung Freud erläutert, dass der Ödipuskomplex als unausweichliches und tödliches Geschick, das der menschlichen Erfahrung innewohnt, tief in der Tragödie Ödipus Rex verwurzelt ist. Deren „tragische Wirkung soll auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen“ (Freud 1900, S. 268). Die Götter repräsentieren die allmächtigen Eltern, denen gegenüber das kleine Kind seine Hilflosigkeit eingestehen und anerkennen muss. Die Tragödie thematisiert die Gefühle der Menschen, die diesen Komplex erleben, und beschreibt seine eigentliche Essenz. Laut Freud betrifft der Ödipuskomplex den Wunsch nach inzestuösen und vatermörderischen Aktionen, den alle Menschen infolge ihres archaischen Erbes hegen. Freud behauptet, es müsse eine Stimme in uns geben, die „die zwingende Gewalt des Schicksals“ anerkennt: „Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn“ (ebd.). Die Geschichte des Ödipus ist die Reaktion der Phantasie auf jene typischen Träume (den Vater zu ermorden, die Mutter zu heiraten), und ebenso wie Erwachsene diese Träume entrüstet von sich weisen, muss auch die Sage von Entsetzen und Selbstbestrafung künden. Im König Ödipus des Sophokles wird die elementare Wunschphantasie des Kindes ans Licht befördert und verwirklicht – ganz so, wie es in Träumen geschieht. In Shakespeares Hamlet hingegen bleibt sie verdrängt, und „wir erfahren von ihrer Existenz - dem Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich - nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen“ (Freud 1900, S. 270). Wir wissen, dass Shakespeare Hamlet unmittelbar nach dem Tod seines eigenen Vaters (1601) schrieb, so dass wir annehmen dürfen, dass der trauernde Dichter die eigenen infantilen, auf den Vater gerichteten Gefühle wiedererlebte. Bekannt ist auch, dass einer von Shakespeares Söhnen, der vorzeitig starb, Hammet (identisch mit Hamlet) hieß. (Vgl. Freud, „Die Träume vom Tod teurer Personen“, in: Die Traumdeutung , 1900, S. 254-280.) Ödipus und Hamlet illustrieren zwei Aspekte der Übertragung: Hamlet den vatermörderischen Impuls, der sich infolge der Verdrängung in Selbstanklage verwandelt, und Ödipus die Unausweichlichkeit des tödlichen, dem Inzest und Vatermord zustrebenden Schicksals. Hamlet ermöglicht es Freud, den verdrängten Aspekt des Ödipuskomplexes zu erörtern, während Sophokles’ Tragödie noch ein weiteres Element berührt, nämlich das, was „untergegangen“ ist, sich aber im Laufe des Geschehens um den tragischen Ödipus entfaltet. Beide Aspekte werden in der Übertragung mit der Person des Analytikers durch Symptome, Träume und „Aktual“manifestationen durchlebt.

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