Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Ausgehend von diesen Überlegungen gelangt Freud (1939 [1934-38]) zu einer der Religionsgeschichte zugrunde liegenden historischen Wahrheit, nämlich der des Vatermordes. Er zeigt eine Analogie zur analytischen Erfahrung auf: Die historische Wahrheit ist diejenige, die der Analytiker auf der Grundlage von Gefühlen und Erfahrungen, Hinweisen auf andere Szenen, die die durch die Übertragung geschaffene begleiten, konstruiert. Diese Konstruktion hat eine Tragödie zum Inhalt, die bislang stumm geblieben ist und nun auf Drängen des Wiederholungszwangs in der Analyse mitsamt ihrem tödlichen Schicksal manifest wird. Diese nicht aufzuhaltende Kraft kann die Durchführung der analytischen Aufgabe unmöglich machen. Die masochistische Komponente gibt die tragische Schuld oder das Bestrafungsbedürfnis zu erkennen, während die Übertragung als Bühne dient, auf der sich die Tragödie entfaltet. Diese Konstruktion wird auf dieselbe Weise, wie Freud (1937b) es in „Konstruktionen in der Analyse“ beschreibt, mit einer historischen Konstruktion in Verbindung gebracht (zu welcher der Analytiker anhand der Symptome, Deckerinnerungen und der Übertragung gelangt): „Bis zu Ihrem nten Jahr haben Sie sich als alleinigen und unbeschränkten Besitzer der Mutter betrachtet, dann kam ein zweites Kind […]. Ihre Empfindungen für die Mutter wurden ambivalent“ (S. 47). Auch wenn das Erinnern das eigentliche Ziel der Analyse ist, weil es zum Erwerb von Kohärenz, Kontinuität und Entscheidungsfreiheit führt, können Konstruktionen kompensierend in die Bresche springen, wenn die Erinnerung versagt, und versuchen, das Verdrängte, traumatisch Dissoziierte, Verlorene, „Ausgestoßene“ oder „Verschüttete“ darzustellen. Tatsächlich arbeitet die Übertragung auf die Möglichkeit hin, ein verlorenes Objekt der Herrschaft der Verdrängung zu entreißen und wiederzubeleben, indem sie es auf der Grundlage von Hinweisen repräsentiert: Diese Arbeit erfolgt durch die Behandlung. Daher ist die Übertragung im Falle der Neurose nur als Möglichkeit, die zum Erinnern führt, und nicht um ihrer selbst erwünscht: hier liegt die Grenze gegen einen möglichen manipulativen Missbrauch der Übertragung. Diesbezüglich bleibt Freud stets neugierig und achtet aufmerksam auf die Verbindungen zwischen Übertragung und Suggestion sowie zwischen Übertragung und Okkultismus: Wie wird eine Erinnerung aus der Vergangenheit des Patienten über die Person des Analytikers an die therapeutische Situation gebunden und auf diese Weise in den Vordergrund der psychischen Bühne gerückt? Gibt es eine Mesalliance, in der der entsprechende Affekt gleichermaßen stark und intensiv ist wie der Affekt, der einst das Symptom hervorbrachte? Diese frühen Überlegungen Freuds regte eine noch nicht abgeschlossene Debatte über die Anerkennung der Bedeutsamkeit, die der psychischen Realität und ihrem Einfluss auf alle psychischen Prozesse einschließlich Wahrnehmung und Erinnerung zukommt, an.

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