Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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tretende Material nicht etwa eine Reinszenierung einer entfernten Vergangenheit, sondern vielmehr der unmittelbaren Gegenwart darstellt, denn die traumatisierenden Vorgänge schienen fortzudauern. Klein nimmt das Spiel der Kinder ernst: Im Spiel treten Kinder zu sich selbst, zu ihren Befürchtungen und Ängsten sowie zu ihren innersten Wünschen in Beziehung. Das Kind bringt seine Bemühungen zum Ausdruck, seine Erfahrungen und Phantasien durch die in der Spielsitzung mit der Analytikerin inszenierten Beziehungen darzustellen. In gleicher Weise wird die Übertragung in der Erwachsenenanalyse zu einer Reinszenierung des aktuellen Phantasieerlebens, das aus bewussten und unbewussten Phantasien, inneren Objekten und dem Wechselspiel der ihnen geltenden Gefühle sowie der sie schützenden Abwehr besteht. Das Objekt steht von Geburt an im Zentrum des Gefühlslebens, und genauso verhält es sich auch in der Übertragungssituation. Von Anfang an sind mit den Objektbeziehungen auch Abwehrmechanismen verbunden. Die Suche nach dem Objekt wird von Melanie Klein als grundlegend betrachtet, als eine Voraussetzung des psychischen Lebens. Freud hingegen war der Ansicht, dass die Triebbefriedigung von der Objektsuche unabhängig sei. Diese Unterschiede ziehen profunde Divergenzen zwischen Kleins und Freuds Übertragungstheorien nach sich: Während die Übertragung Freud zufolge vorwiegend auf Trieben, die nach Abfuhr suchen, und auf der Rekonstruktion der Vergangenheit beruht, rückt die Entwicklung der Übertragung bei Klein ins Zentrum der Aufmerksamkeit: „Diese grundlegenden Veränderungen [in der Analyse] sind das Resultat einer konsequenten Übertragungsanalyse; sie gehen mit einer tiefgreifenden Revision der ersten Objektbeziehungen einher und spiegeln sich im aktuellen Leben des Patienten ebenso wider wie in seinen veränderten Einstellungen gegenüber dem Analytiker“ (Klein 2000 [1952], S. 95). Klein gibt nicht etwa Deutungen des „Hier und Jetzt“ Vorzug, die mit der Vergangenheit des Patienten nichts zu tun hätten, sondern erkennt an, dass der Patient eine innere, von früheren Erfahrungen determinierte Welt auf den Analytiker projiziert und dass die Struktur dieser inneren Welt sich während des gesamten Prozesses des Wiedererlebens in der Vergangenheit entwickelt und verändert. Die Entdeckung der Spaltungsmechanismen in den 1920er Jahren ermöglichte es Psychoanalytikern, die von psychotischen Patienten erlebte Übertragung zu konzeptualisieren. Die Spaltung in gute und böse Objekte, die in der sehr frühen Kindheit vorherrscht, hat unmittelbare Implikationen für das Verständnis der Übertragung als Vernetzung von positiven und negativen Emotionen oder Liebes- und Hassgefühlen. Das Zusammenspiel der verschiedenen Aspekte der Objekte, auf die sich diese Gefühle richten, setzt einen Teufelskreis aus Aggression, Angst und Schuldgefühlen in Gang, der in der Übertragung ein ums andere Mal durchgearbeitet werden muss: „Real gibt es im Leben des Säuglings nur sehr wenige Personen, die er aber gleichwohl als eine Vielzahl von Objekten empfindet, weil sie ihm in verschiedenartigen Aspekten erscheinen“ (ebd., S. 91). Klein behauptet, dass die Analyse der negativen Übertragung eine unabdingbare Voraussetzung dafür sei,

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