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keine stabile Entität darstellt – d.h. Patienten mit Borderline-Zuständen und psychotischen Episoden im Erwachsenenleben -, können nicht länger unter dem Aspekt des Durcharbeitens der Übertragungsneurose oder des Aufhebens der Verdrängung diskutiert werden. Der Übertragungsbegriff muss erweitert werden, denn „der Analytiker wird mit dem Primärvorgang des Patienten“ (Winnicott 1955-56, S. 298), mit dem ursprünglichen Bruch, konfrontiert. In Fällen, in denen die früheste Umwelt nicht gut genug, sondern defizient war, muss die Aufgabe, dieses Defizit zu bewältigen, in der Übertragungsbeziehung gelöst werden. Eine gute Abstimmung seitens des Analytikers ermöglicht es dem Patienten, eine tiefe Abhängigkeit zu entwickeln, aus der dann das nötige Vertrauen und Sicherheitsgefühl hervorgehen, das er braucht, um das ursprüngliche Trauma – die Qual des unbegrenzten Fallens - in der Übertragung wiedererleben zu können. Unter dieser Voraussetzung kann sich aus dem falschen Selbst ein authentisches Selbst entwickeln. Winnicott (1963) schreibt auch, dass es für solche Patienten unmöglich sei, sich an etwas zu erinnern, das insofern noch nicht geschehen ist, als ihr Säuglings-Ich allzu unreif war, um es erleben zu können. In diesem Fall besteht die einzige Chance, es zu „erinnern“, darin, die Erfahrung zum ersten Mal in der Gegenwart, das heißt in der Übertragung, zu durchlaufen. Ein weiterer spezifischer Beitrag Winnicotts zur Konzeptualisierung der Übertragung hängt mit der Destruktivität zusammen. In seiner Abhandlung „The use of an object and relating through identifications“ (1968) beschreibt er die notwendige, vitale und destruktive Tendenz, die es dem Subjekt – sei’s ein Kind oder ein Borderline- Patient – ermöglicht, die Existenz des Objekts oder des Analytikers außerhalb des Kontrollbereichs seiner Omnipotenz zuzulassen, sofern das Objekt die in der Übertragung unternommenen Angriffe überlebt. Hier „beginnt die Phantasie für das Individuum. Das Subjekt kann das Objekt, welches überlebt hat, nun verwenden “ (S. 90). Kann der Patient eine solche Erfahrung nicht machen, bleibt der Analytiker für ihn auf ewig eine bloße Projektion eines eigenen Selbstanteils. In „Hate in the counter-transference“ betont Winnicott (1947) die Ambivalenz des Analytikers gegenüber schwierigen Patienten. Sie wecken eine Art Hass in ihm, der an sich nicht spezifisch ist, dessen Intensität aber spezifisch für die jeweilige Situation ist: „In der gewöhnlichen Analyse bereitet die Handhabung des eigenen Hasses dem Analytiker keine Schwierigkeiten. […] In der Analyse von Psychotikern hingegen wird der Analytiker auf ganz andere Weise und in ganz anderem Maße beansprucht, und ebendiese andere Art und Intensität der Beanspruchung versuche ich zu beschreiben“ (S. 197). Laut Winnicott hängt der unterschiedliche Intensitätsgrad bei Neurose bzw. Psychose mit den sehr unterschiedlichen frühen Beziehungs- und Interaktionserfahrungen zusammen. Roussillon (2011) diskutiert, teils ausgehend von Winnicott’schen Konzepten, Patienten mit narzisstischen Identitätsstörungen, die eine paradoxe Form der Übertragung entwickeln, „eine Art der Übertragung, bei der etwas ‚umgekehrt‘ wird:
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