Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Richtung wie der Traum: Beide verleugnen Abwesenheit und beide tendieren dazu, das, was nicht symbolisiert werden konnte, erneut darzustellen (neu darzustellen). Deshalb ist die Richtung dieser Arbeit der Richtung der Trauer entgegengesetzt. Das bedeutet, dass der Übertragung und dem Träumen eine „halluzinatorische“ Qualität gemeinsam ist, da sie beide die Erfahrung nach Maßgabe unbewusster Schemata zu gestalten versuchen, statt die Realität der Abwesenheit oder des Verlustes anzuerkennen. V.D. Laplanche und Freud: eine frankokanadische Lesart Eine einflussreiche Denkrichtung im frankophonen Teil Kanadas betrachtet die Übertragung als allerwichtigstes und charakteristischstes Element der psychoanalytischen Behandlung. Unter dieser, auch durch Jean Laplanches Schriften inspirierten Perspektive ist die Berücksichtigung der Übertragung dasjenige Element, das die Behandlung zu einer „psychoanalytischen“ macht. Darüber hinaus besitzt keine „genetische“ Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Patienten das gleiche Gewicht wie das Material, das in der Übertragung wiederauflebt. Die Übertragung wird außerdem als eine der stärksten Formen des Widerstandes gegen die Analysearbeit und zugleich als deren effektivstes Instrument betrachtet. Zwar wirkt die Übertragung als Widerstand, indem sie in der Beziehung zum Analytiker die Wiederholung anstelle des Erinnerns begünstigt, doch ist „Erinnern“ hier nicht als ein Prozess zu verstehen, in dem Erinnerungen abgerufen werden, sondern als ein Rekonstruieren der eigenen Psyche (Scarfone 2011). Scarfone identifiziert zwei Arten der Übertragung: Erstens eine basale positive Übertragung auf den Analytiker als vertrauenswürdigem professionellem Therapeuten, dem unterstellt wird, dass er sich für die langfristigen Interessen des Patienten einsetzt. Dies ist die von Freud so genannte „väterliche“ Übertragung, aber sie ist nicht das wichtigste. Wichtiger ist, dass eine Analyse ohne diese basale Übertragung (die Grundlage des therapeutischen und des Arbeitsbündnisses, wie die amerikanischen Analytiker es nennen) gar nicht möglich ist. Diese positive Übertragung ist kein Widerstand und sollte nicht gedeutet werden. Ungedeutet, kommt sie dem laufenden Analyseprozess zugute. Die zweite Art der Übertragung wird von Scarfone als „Übertragung im eigentlichen Sinn“ bezeichnet: Sie ist diejenige, die als Widerstand wirkt, ganz gleich, ob sie negativ (feindselig) ist oder aber „positiv“ (zum Beispiel hocherotisch oder leidenschaftlich). Diese Übertragung im eigentlichen Sinn ist unterteilt in zwei Unterkategorien, die sich auch bei Freud finden: Einerseits die von Freud 1912 beschriebenen „Klischees“, andererseits der 1915 beschriebene Feueralarm während einer Theatervorstellung. Während im ersten Fall etwas reproduziert wird, das bereits vorhanden war und deshalb auf den Analytiker projiziert werden kann, haben wir es im zweiten Fall mit einem unvorhergesehenen Ereignis zu tun: Der Patient lehnt die Analyse ab und will von „Bedeutung“ nichts mehr hören. Der Unterschied zwischen

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