Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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beiden Übertragungsformen kommt deutlicher zum Ausdruck, wenn wir ihn in Anlehnung an Laplanche wie folgt beschreiben: Die erste Art der Übertragung ist eine „gefüllte“ Übertragung, in welcher die Patientin wiederholt, was sich schon in ihren früheren Beziehungen zu wichtigen Menschen beobachten ließ. Diese Form lässt sich nur allzu leicht deuten (z.B.: „Sie lehnen meine Deutungen genauso ab, wie Sie die Ratschläge Ihres Vaters abgelehnt haben …“), führt uns aber nicht zum Kern der Sache. Die zweite und überaus wichtige Art der Übertragung ist die „ausgehöhlte“ Übertragung, bei der weder Patientin noch Analytiker auch nur annähernd wissen, was wiederholt wird: Die Analysandin sieht sich mit den Rätseln konfrontiert, die sie schon in der Vergangenheit verwirrt haben. Was hier „wiederholt“ wird, ist vom Subjekt nie auf eine ihm begreifliche Weise erlebt worden. Dies kommt dem Phänomen sehr nahe (wenn es nicht sogar identisch mit ihm ist), das Winnicott (1974) in seiner berühmten Abhandlung „Fear of breakdown“ beschrieben hat: In der Vergangenheit ist etwas geschehen, aber damals gab es noch kein „Ich“, das es hätte wahrnehmen und sich merken können (siehe auch Clare Winnicott 1980). Infolgedessen muss es in der Analyse erstmals erlebt werden, damit es dann Teil der Vergangenheit werden kann. Dies ist daher die wichtigste Art der Übertragung: Etwas, das nur unzulänglich repräsentiert wurde, muss vom Patienten zum ersten Mal in seinem Leben durchlebt und durchgearbeitet werden.

VI. SPEZIFISCHE NORDAMERIKANISCHE PERSPEKTIVEN UND ENTWICKLUNGEN

Freuds frühe Überlegungen zur „Übertragungsneurose“, ihrer Entwicklung und ihrer Auflösung durch die therapeutische Arbeit wurden zu einer der Leitideen der nordamerikanischen Psychoanalyse in der sehr viel späteren Phase der Hegemonie der „klassischen Psychoanalyse“ (ein Begriff, der die amerikanische Ich-Psychologie der 1940er, 1950er und 1960er Jahre bezeichnet). Mittlerweile hat das Konzept einiges an Einfluss verloren, doch in der „klassischen“ Ära galten die Entwicklung und Auflösung einer Übertragungsneurose im Grunde als Definitionsmerkmal einer psychoanalytischen Behandlung. Bei Therapien ohne eindeutige Übertragungsneurose und deren Durcharbeiten tauchte regelmäßig die Frage auf, ob es sich überhaupt um eine Psychoanalyse „im eigentlichen Sinn“ handelte. Damals hatte Stracheys Auffassung noch viele Anhänger. Nordamerikanische Analytiker (die Mitglieder der American Psychoanalytic Association, APsaA) der „klassischen“ Ära begrenzten ihre Kommentare gegenüber ihren Analysanden auf die Übertragung. Um sich anderweitig zu äußern, waren besondere Gründe erforderlich. Die auf Stracheys Grundsatz beruhende analytische Technik wurde den analytischen

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