Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Gegenübertragung und ihre Kontinuität, sondern auch ihre – vielleicht noch wichtigeren – interpersonalen und relationalen Aspekte. Er erörterte zudem die entwicklungspsychologische und genetische (d.h. individual-historische) Dimension. Übertragungen und Gegenübertragungen in der analytischen Situation sind Racker zufolge zwangsläufig dyadisch. Sie gehen mit interpenetrierenden Gefühlen, Phantasien, Triebregungen und Erinnerungen des Patienten wie auch des Analytikers einher, beeinflussen einander wechselseitig und interagieren miteinander. Racker beschrieb die Übertragung-Gegenübertragung als Objektbeziehungen, insbesondere als Wiederholung früher Objektbeziehungen, und führte die Termini „komplementär“ und „konkordant“ ein, um typische Muster der Reziprozität zu charakterisieren. Rackers Arbeit und seine Auffassung der Übertragung-Gegenübertragung sowie ihres unauflöslichen Zusammengehens floss nach und nach in den nordamerikanischen „Mainstream“ ein. Mittlerweile dürfte es schwierig sein, einen klinischen Beitrag im Journal of the American Psychoanalytic Association unterzubringen, der die Übertragungs-Gegenübertragungsdimension des vorgestellten klinischen Materials nicht berücksichtigt. Die Integration der Zwei-Personen- Implikationen dieser Dimension hat mit dazu beigetragen, dass sich die Auffassungen der relationalen/interpersonalen Schulen und der „modernen Konflikttheorie“ einander annäherten – auch wenn nach wie vor grundlegende Unterschiede bestehen (siehe unten). Gleichwohl hat man die Jahrzehnte der 1970er, 80er und 90er Jahre zutreffend als „die Jahre der Gegenübertragung“ bezeichnet (Jacobs 1999, S. 575). Jacobs beschreibt die Gegenübertragung zu Recht als Entität, „die lange Zeit eine Schattenexistenz führte und schließlich als eines jener Themen auftauchte, die in der heutigen Psychoanalyse besonders eifrig diskutiert werden“. Heute ist es in der Tat schwierig – wenngleich keineswegs unmöglich, von der Übertragung zu sprechen, ohne ihr Gegenstück zu erwähnen. Wir haben es hier mit einer radikalen Entwicklung und vielleicht sogar mit einem Paradigmenwechsel zu tun. Die Auffassung der Übertragung als Wiederholung von Beziehungen aus der Vergangenheit in der Gegenwart und speziell in der analytischen Beziehung wird trotz mannigfaltiger Modifizierungen grundsätzlich von heutigen nordamerikanischen Analytikern geteilt, wobei zu erwähnen ist, dass die von der relationalen/interpersonalen Schule vorgenommenen Modifizierungen das Konzept so sehr verändert haben, dass man es kaum wiedererkennt. Otto Kernberg (siehe unten) spricht wahrscheinlich für die große Mehrheit nordamerikanischer Analytiker, wenn er sagt, „die Analyse der Übertragung [sei] die wichtigste Quelle für spezifische, durch die psychoanalytische Behandlung herbeigeführte Veränderungen“. Wir dürfen die Übertragung getrost als das Definitionsmerkmal bezeichnen, das die Psychoanalyse von anderen Psychotherapien unterscheidet. Ebenfalls als Weiterentwicklung der „Ich-Psychologie“ (Hartmann 1939), die das Feld in Nordamerika etwa zwischen 1940 und 1980 beherrschte, vertrat die „moderne Konflikttheorie“ (MCT) (gelegentlich als „Konflikttheorie“ oder „klassische Analyse“ bezeichnet) die Ansicht, dass einzig und allein die Psyche des Analysanden

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