Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

vorgebe, ob dieser übertragungsfähig sei oder nicht. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Auffassungen der „Zwei-Personen“-Theorien, die (mit Abweichungen) behaupten, dass die Übertragung – eine Bezeichnung, die dieser Sichtweise zufolge nicht wirklich zutrifft – oder, besser gesagt, die Beziehung ein einzigartiges neugeschaffenes Produkt der Interaktionen der jeweiligen analytischen Dyade darstellt. Einer Variante dieser Überlegung gemäß ist die Übertragung ko-konstruiert; aus diesem Grund wird sich die Übertragung eines Patienten je nach der Person seines Analysepartners unterschiedlich gestalten. Selbst die Verwendung des Begriffs „Übertragung“ kann Verwirrung stiften, weil manche Zwei-Personen-Analytiker den Terminus zwar benutzen, aber die Bedeutsamkeit der Wiederholung der Vergangenheit entweder ganz ausklammern oder sie bagatellisieren. Während die Zwei-Personen- Psychologie davon ausgeht, dass die analytische Beziehung exklusiv oder in erster Linie aus Elementen der Gegenwart konstruiert wird, hält die moderne Konflikttheorie an Freuds Überlegung fest, dass die analytische Beziehung zu einem hohen Grad durch die Übertragung im Sinne der Wiederholung früherer Beziehungen durch den Patienten beeinflusst wird. In den Augen der Zwei-Personen-Analytiker wird nichts Wichtiges übertragen. Daher wäre es angemessener, von der analytischen Beziehung und nicht von Übertragung zu sprechen. VI. C. Moderne Konflikttheorie Die zeitgenössischen Abkömmlinge der nordamerikanischen Ich-Psychologie (siehe den Eintrag KONFLIKT) verstehen die repetitive und interaktive Übertragungsaktivität in der Übertragungs-Gegenübertragungsdyade als Manifestation einer hartnäckigen, ubiquitären unbewussten Phantasie, die aus adaptiven ebenso wie fehlangepassten Kompromissbildungen besteht und neurotischen Symptomen, aber auch kreativen Hervorbringungen zugrunde liegt. Moderne klinische Konzepte der „verborgenen Übertragungen“ und der „Übertragungszyklen“ (siehe unten) sind Beispiele für die heutige Komplexität dieser Schule: Abend (1993) erweiterte das Konzept der Ubiquität der unbewussten Phantasie, indem er deren geschichtete Manifestationen beschrieb, und identifizierte die subtilen idiosynkratischen, „verborgenen“ Übertragungen auf die psychoanalytische Gesamtsituation. „Meine eigene klinische Erfahrung“, so schrieb er, „hat mich veranlasst, der idiosynkratischen, bisweilen sehr subtilen Art und Weise, wie Patienten die analytische Situation nach Maßgabe ihrer emotionalen Bedürfnisse konstruieren, größere Aufmerksamkeit zu widmen. Häufig handelt es sich um fortlaufende Befriedigungserfahrungen in der Übertragung, die für den Analytiker schwierig zu entdecken sind. Gleichermaßen schwierig ist es für den Patienten, auf sie zu verzichten. Es gibt Varianten des Übertragungswunsches, die durch die Grenzen der analytischen Situationen weniger leicht enttäuscht und frustriert werden, darunter der Wunsch, von einem aufmerksamen Zuhörer ernst genommen zu werden. Dies wirft ein technisches Problem auf, das gründlich untersucht zu werden verdient. Ich bin überzeugt, dass es von Vorteil ist, von Fall zu Fall, auf individueller Basis, nach verborgenen Übertragungen zu suchen, ohne

973

Made with FlippingBook - Online magazine maker