Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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VI. F. Relationale Perspektiven Das relationale/interpersonale Verständnis der Übertragung gründet fest in einer Zwei-Personen-Psychologie. Übertragung und Gegenübertragung sind unentwirrbar miteinander verbunden. Das heißt, dass die Übertragung nach Meinung der relationalen Theoretiker nicht einfach ein „Transfer“ internalisierter Schablonen oder Klischees des Patienten auf den Analytiker sein kann. Sie ist vielmehr Teil einer klinischen Situation, die laut Racker (1988) durch eine Interaktion zweier Persönlichkeiten konstituiert wird: „Jede Persönlichkeit hat ihre inneren und äußeren Abhängigkeiten, Ängste und pathologischen Abwehren; jede ist auch ein Kind mit seinen inneren Eltern, und jede dieser ganzen Persönlichkeiten – die des Analysanden wie auch die des Analytikers – reagiert auf alles, was in der analytischen Situation geschieht“ (S. 132). Steven Mitchell (2000) war der Ansicht, dass psychoanalytisches Wissen in der intersubjektiven Matrix zwischen Patient und Analytiker durch die Untersuchung ihrer Transaktionsmuster erzeugt werde und seine innere Struktur aus einem interaktiven, interpersonalen Feld herleite. Weil das Muster der Gegenstand der analytischen Untersuchung ist, existiert die Übertragung nicht ohne Beteiligung ihres Objekts (Gegenübertragung). Relationale Analytiker verankern die Übertragung in einem sozial- konstruktivistischen Modell. Irwin Z. Hoffman (1983) betont, dass die Übertragung keine Verzerrung der Realität sei, sondern eine bewusste und/oder unbewusste selektive Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte der Beteiligung des Analytikers. Eine wichtige Konsequenz dieser Sichtweise besteht in der Annahme, dass der Analytiker die Art der Übertragung des Patienten unweigerlich beeinflussen wird. Wie Ogden (1994) schreibt, gestaltet sich die Analyse eines jeden Patienten je nach den besonderen, bewussten und unbewussten Eigenschaften seines Analytikers unterschiedlich, weil sie gemeinsam ein „analytisches Drittes“ hervorbringen. Sullivans Interpersonal Theory of Psychiatry (1953) unterstreicht, dass eine Person nur im Kontext einer sozialen Interaktion ge-kannt werden kann, die ein sich unaufhörlich veränderndes „interpersonales Feld“ konstituiert. Seiner Ansicht nach ist das „Selbstsystem“ so aufgebaut und strukturiert, dass es die Angst, die im Kontext der Interaktion mit einem signifikanten „Anderen“ auftaucht, zu reduzieren vermag. Deshalb ist die „Übertragung“ eines Patienten auf seinen Analytiker wahrscheinlich eine Art der Anpassung, die darauf angelegt ist, die der Interaktion inhärente Gefahr zu reduzieren und vielleicht auch den Analytiker zu schützen. Irwin Hoffmann übt Kritik am klassischen Übertragungsverständnis, indem er betont, dass es für den Analytiker ganz und gar unmöglich sei, die Reaktion seines Patienten auf ihn selbst nicht zu beeinflussen. Da einige zeitgenössische Vertreter der relationalen Analyse, vor allem Bromberg (1998, 2006, 2011) und D. B. Stern (2011), das Selbst als eine Ansammlung von Selbstzuständen (d.h. internalisierten Objektbeziehungen) betrachten, die einander bewusst sein können oder auch nicht, verstehen sie die Übertragung als einen spezifischen Selbstzustand des Patienten, der mit einem Selbstzustand des Analytikers interagiert. So schreibt Bromberg (1998): „Indem sich der Analytiker auf

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