Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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im Es verschütteten narzisstischen, inzestuösen und tragischen Strukturen, einen Unterschied zwischen dem Konzept der ödipalen Tragödie und dem des Ödipuskomplexes zu treffen. In Das Ich und das Es erklärte Freud (1923), dass die Grundlagen der Psyche eine primäre ödipale Struktur, die Protophantasien, enthalten, die zu der „erste[n] und bedeutsamste[n] Identifizierung des Individuums“ führen. „Diese scheint zunächst nicht Erfolg oder Ausgang einer Objektbesetzung zu sein, sie ist eine direkte und unmittelbare und frühzeitiger als jede Objektbesetzung“ (S. 259). Solche primären Identifizierungen dienen als Grundlage späterer Identifizierungen, die den Ödipuskomplex bilden; sie prägen das Idealich, den Vorläufer des Ich-Ideals. Diese primären Phantasien enthalten die Ursprünge des Ödipuskomplexes: Inzest mitsamt kindes- und vatermörderischen Impulsen im Kampf um den Besitz der Mutter/der Frau, wie Freud es in seiner Darstellung einer fernen, mythischen Zeit beschreibt. Im psychoanalytischen Prozess lassen sich Hinweise auf diese mythische Zeit zum Beispiel bei Inzestfällen beobachten. Klinisch manifestiert sich der Inzest als negative therapeutische Reaktion; die Übertragungsliebe ist eine der Gestalten, die er annehmen kann. Cesio (1993, S. 137) unterscheidet zwischen zwei ödipalen Strukturen: Er beschreibt erstens einen Inzest narzisstischer, leidenschaftlicher, tragischer Natur, die ödipale Tragödie. Und zweitens einen Inzest, der aus dem Durcharbeiten des ersten mit den Eltern der persönlichen Geschichte resultiert: der Ödipuskomplex, laut Freud charakterisiert durch Zärtlichkeit und Ambivalenz. Er manifestiert sich durch seine Suche nach dem gehemmten Sexualziel und in den Symptomen der Psychoneurosen. Dieses „Aktualmaterial“ resultiert eher aus einem Verschüttungs- als aus einem Verdrängungsprozess. Die Wiederkehr des Verdrängten macht psychoneurotischen Symptomen Platz, die gedeutet werden können, während das „Aktualmaterial“, das verschüttet (untergegangen) war, als Tragödie, Aktualneurose, Lethargie und Agieren ins Bewusstsein gelangt und deshalb Konstruktionsarbeit erfordert. Im Zusammenhang mit Doras Agieren und der Deutung der Übertragung auf den Analytiker zog Freud den Schluss: „Nun ist dieses Stück der Arbeit das bei weitem schwierigste. Das Deuten der Träume, das Extrahieren der unbewussten Gedanken und Erinnerungen aus den Einfällen des Kranken und ähnliche Übersetzungskünste sind leicht zu erlernen; dabei liefert immer der Kranke selbst den Text. Die Übertragung allein muss man fast selbständig erraten, auf geringfügige Anhaltspunkte hin und ohne sich der Willkür schuldig zu machen. Zu umgehen ist sie aber nicht“ (S. 280). Dementsprechend betont Freud, wie einfach es war, Doras Träume – das Imaginäre – zu deuten, während die Analyse ihrer Übertragung auf seine Person – das Aktuale, das Reale – die Patientin veranlasste, zu agieren und die Analyse zu beenden. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass das Drama des Analytikers darin besteht, dass die Technik und das Setting inzestuöse sexuelle Übertragungen aktivieren und sie gleichzeitig frustrieren. Diese Übertragungen sind weder ein lediglich

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