Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Zu erwähnen ist, dass unter Konstruktion die Konstruktion des „Aktes“ zu verstehen ist, der auf der Basis des Affekts, der Angst, des Schweigens oder der Lethargie, die das Erlebnis begleiteten, und auf der Basis der Vorstellungen des Analytikers rückgeschlossen wird. Dieser kann dann die tragische Szene beschreiben, die im „Realen“ der Sitzung zur Aufführung kommt. Dies unterscheidet sich von einer historischen Rekonstruktion, die zu einem späteren Zeitpunkt, a posteriori, stattfinden kann. Die Gegenübertragungsneurose erschwert dem Analytiker die Arbeit. Als Teil des Paares Übertragung-Gegenübertragung aber dient letztere als wichtiges Element der klinischen Arbeit. Freud betont den Widerstand, der das Auftauchen der Übertragungen der Elternimagines begleitet. Diese Übertragungen sind in der Analyse unvermeidlich und lassen die „Übertragungsliebe“ entstehen, wenn sie nicht angemessen aufgelöst und gedeutet werden – eine Tragödie, die die Behandlung zunichtemachen kann. So verhielt es sich in dem sinnbildhaften Fall der Anna O., einer Patientin Breuers, der seine Zusammenarbeit mit Freud beendete, weil er nicht bereit war, die sexuelle Ätiologie der Neurose anzuerkennen. Dieser durch die Gegenübertragungsneurose erzeugte Widerstand verzögerte die behandlungstechnische Weiterentwicklung im ersten Jahrzehnt der analytischen Therapie. Die Untersuchung der „primären sexuellen Übertragungen“ verlangt, dass man die theoretische Position bezüglich des Ödipuskomplexes definiert, der zwei unterschiedliche Strukturen umfasst (siehe oben): Zum einen die Variante mit grandiosen, originalen Eltern, die Cesio als „ödipale Tragödie“ bezeichnet. Dies ist Inzest narzisstischen, leidenschaftlichen, tragischen Charakters – eine versiegelte Einheit, gebildet durch Vatermord, Inzest und Kastration, die in der Regel verschüttet bleibt und vermittels tragischer Repräsentation wiederkehrt. Die zweite Variante, der eigentliche Ödipuskomplex, ist durch eine ambivalente Beziehung zum Vater und zärtliche Gefühle für die Mutter sowie durch den Kastrationskomplex charakterisiert. Sie ist das Ergebnis des Durcharbeitens der ersten Struktur mit den Eltern der persönlichen Lebensgeschichte. Ihr Schicksal ist die Verdrängung; wiederkehren kann sie in Form psychoneurotischer Symptome. Im Abschnitt III von Das Ich und das Es erläutert Freud (1923) eine primäre ödipale Struktur in den Grundlagen der Psyche, nämlich die ödipalen Phantasien, die zu den ersten Identifizierungen führen, deren Wirkung universal und dauerhaft sein wird. Hier hebt, ausgehend von einer ersten und ungemein wichtigen Identifizierung mit den großartigen, undifferenzierten Eltern der persönlichen Vorgeschichte, auch die Genese des Ich-Ideals an. Infolgedessen treten die ödipale Tragödie und die Varianten des positiven und des negativen Komplexes mit ihrer jeweiligen Auflösung in der Übertragungsanalyse zutage. Der tragische ödipale Charakter der negativen therapeutischen Reaktion und das Auftauchen des als „Übertragungsliebe“ bezeichneten Affekts setzt sich über die

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