Enzyklopädisches Psychoanalytisches Wörterbuch der IPV

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Etchegoyen (2005) vertritt die Meinung, dass Gegenübertragungsgefühle und - triebe im Unbewussten des Analytikers in Reaktion auf die Übertragung des Patienten auftauchen (S. 297). Ausgangspunkt ist die Übertragung des Patienten, die Gegenübertragung ist ihr Kontrapunkt, und beide werden in einem Setting erzeugt. Das Setting operiert als kontexueller Bezug und begünstigt eine nicht-konventionelle, asymmetrische Beziehung. Der Analytiker könnte auf die Übertragung des Patienten völlig rational reagieren und konsequent auf der Ebene des Arbeitsbündnisses bleiben. Aber die klinischen Fakten beweisen, dass der Analytiker zuerst mit irrationalen Phänomenen reagiert, in denen infantile Konflikte mobilisiert werden. So gesehen, handelt es sich eindeutig um ein Übertragungsphänomen des Analytikers. Doch wenn die die analytische Situation aufrechterhalten wollen, ist eine Reaktion auf den Patienten erforderlich. Erfolgt sie nicht, müssten wir sagen, dass wir nicht im analytischen Prozess sind, sondern etwas reproduzieren, das im Alltagsleben zwischen zwei Personen, die einen Konflikt miteinander haben, passiert“ (Etchegoyen 1999, S. 268f.). Die Übertragung ist Vergangenheit und Gegenwart zugleich. Das Unbewusste, so Etchegoyen, ist zeitlos, und die Behandlung besteht darin, ihm Zeitlichkeit zu verleihen. Aus diesem Grund hängen Erinnerung, Übertragung und Geschichte untrennbar miteinander zusammen: „Der Analytiker muss die Durchmischung von Vergangenheit und Gegenwart in der Psyche des Patienten unterstützen, damit die Verdrängungs- und Spaltungsmechanismen, die sie zu trennen versuchen, überwunden werden“ (ebd.). Etchegoyen zufolge reicht es nicht, die Übertragung auf die Vergangenheit zu beziehen; vielmehr kann die Situation nur bewältigt werden, wenn wir das Hier und Jetzt der Übertragung anerkennen. Das heißt, was in der Gegenwart geschieht, muss ebenfalls berücksichtigt werden. Die Deutung der Gegenübertragung ist in solcher Weise durchzuführen, dass sie nicht zu einem bloßen Akt des Sich-gleich-Machens mit dem Anderen wird. Damit die Übertragung zu einem behandlungstechnischen Instrument werden kann, muss sie gedeutet werden. Dadurch gewinnt der Analytiker das Vertrauen in sein eigenes Denken zurück. Ausgehend von dem Übertragungsverständnis, das Freud in seiner Traumdeutung (Freud 1900) und in der „Nachschrift“ zur Fallgeschichte „Doras“ (Freud 1905) formulierte, sagt Etchegoyen, dass Freud zwei unterschiedliche, wenngleich miteinander zusammenhängende Ansichten zur Übertragung erläutert. Eine dieser Auffassungen bezieht die Person des Analytikers ein (rudimentär angelegt bereits in den Studien über Hysterie von 1895, doch vorwiegend im „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ [Dora] von 1905), die andere findet sich im 7. Kapitel der Traumdeutung und beschreibt dasselbe Phänomen unter dem Blickwinkel der Traumarbeit. Wie oben erläutert, handelt es sich um zwei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende und in der Kindheit gründende psychische Prozesse,

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