NATIONAL GEOGRAPHIC

Während die Schwarzbären in den USA bisher ungefähr die Hälfte ihres früheren Verbreitungs- gebietes zurückgewonnen haben und heute in rund 40 Bundesstaaten zu Hause sind, haben Kojoten, die ursprünglich aus den Great Plains stammen, die Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten im Sturm erobert. Sie sind heute in allen Bundesstaaten mit Ausnahme von Hawaii und in den meisten größeren Städten zu Hause. In Chicago leben bis zu 4000 Kojoten. Der Wildtierökologe Stan Gehrt erforscht die Kojoten von Chicago seit dem Jahr 2000. Kurz zuvor waren die Tiere dort zum ersten Mal auf- getaucht. Gehrt, der für die Ohio State Univer- sity und die Max McGraw Wildlife Foundation arbeitet, glaubte damals, sein Projekt werde höchstens ein Jahr dauern. Mehr als zwei Jahr- zehnte später beschäftigt es ihn immer noch. „Wir haben diese Tiere und ihre Anpassungs- fähigkeit stets unterschätzt“, sagt Gehrt. „Sie schieben das, was wir für ihre Grenzen halten, immer wieder hinaus.“ Ein Frühjahrsmorgen in Schaumburg, einem Vorort von Chicago. Drei Forschende stapfen hinter einer Wohnsiedlung durch die sumpfige Landschaft. Sie suchen nach dem Bau und den Jungen von Kojote 581, einem Weibchen mit Funkhalsband. Plötzlich übertönt das Quieken eines jungen Kojoten den Verkehrslärm. Wenige Augenblicke später stößt Lauren Ross einen Ruf aus. Die leitende Feldassistentin hat ein wenige Wochen altes Jungtier gefunden. Es sitzt im hohen Gras, der helle Bauch noch gebläht von Muttermilch. Vorsichtig hebt Ross das Männchen hoch und untersucht es. Sie nimmt ein Haarbüschel für die Genanalyse und setzt dem Welpen zwischen den Schulterblättern einen kleinen Mikrochip ein, einen sogenannten PIT-Tag. Der unbeholfene kleine Kojote bleibt während der Untersuchung ganz ruhig. Die Mut- ter werde zu ihm zurückkommen, sobald das Team wieder gegangen ist, erklärt Ross. Stan Gehrt hatte anfänglich geglaubt, Kojoten würden sich nur in Parks und auf Grünflächen herumtreiben. „Mittlerweile haben wir überall Kojoten – in jedem Wohnviertel, jedem Vorort und in der Innenstadt.“ Dabei bleibt nichts unver- sucht, um sie auszurotten. Im Jahr werden min- destens 400000 Tiere getötet, ein Fünftel davon im Rahmen eines staatlichen Programms zur Bestandskontrolle, vor allem im Westen der USA. Die Kojoten von Chicago sterben hauptsächlich bei Autounfällen, obwohl sie gelernt haben, Autos

zu meiden und sogar auf rote Ampeln zu achten. In puncto Anpassungsfähigkeit hilft ihnen ihre vielseitige Ernährung. Kojoten fressen so gut wie alles, von Schuhleder bis hin zu Obst, das sie sogar von Bäumen pflücken. Zudem können sie praktisch überall leben. Aber sind sie gene- tisch für ein Leben als Stadtbewohner konstru- iert? Oder passen sie sich mit ihrer berüchtigten Schläue einfach schnell an? Möglicherweise ist es eine Mischung aus Lernen und Vererbung. Der Stadtökologe Christopher Schell von der Univer- sity of California in Berkeley spricht von adap- tiver Plastizität. Anders gesagt: Möglicherweise nutzen die Kojoten ihre angeborene Fähigkeit, sich auf neue Umgebungen einzustellen, und kommen dort im Laufe der Zeit immer besser zurecht. „Kojoten sind wie eine künstliche Intel- ligenz, die schneller lernt als die Menschen, die sie erschaffen haben, und irgendwann die Welt- herrschaft übernimmt“, sagt Schell scherzhaft. Zusammen mit der Wildtierbiologin Julie Young, die in Utah für das National Wildlife Research Center des US-Landwirtschaftsmi- nisteriums arbeitet, untersucht Schell, wie das Futter bei Kojoten in Gefangenschaft das Verhalten beeinflusst. So vergleichen sie bei- spielsweise eine Gruppe von Kojoten, die ein simuliertes urbanes Menü mit vielen Kohlen- hydraten und Zucker erhält, mit Artgenossen, die sich natürlicher und proteinreich ernähren. Ihre Hypothese: Kojoten, die das Gleiche fressen wie Menschen, werden ihnen gegenüber auch mutiger. So könnte ein Kojote, der verarbeitete Getreideprodukte frisst, schneller wieder hung- rig auf Nahrungssuche gehen als ein Tier, das zum Frühstück ein Kaninchen verspeist hat. Bei den Kojoten von Chicago hat Gehrt solch einen Zusammenhang nicht gefunden. Er weist aber darauf hin, dass die Abhängigkeit von den Lebensmitteln der Menschen häufiger zu Kon- flikten mit diesen und ihren Haustieren führt. WIE KOJOTEN UND BÄREN verbreiten sich auch Waschbären in Städten Nordamerikas immer stärker. In Washington wollten die Wildtierfor- scher Kate Ritzel und Travis Gallo wissen, ob Waschbären, die in der Stadt leben, vorwitzi- ger und risikobereiter sind als solche aus länd- lichen Gebieten. Sie testeten die Bereitschaft von Waschbären, unbekannte Gegenstände zu unter- suchen. Dafür vergruben sie Köder in markierten Feldern und installierten in deren Nähe an mehr als 100 Orten in der Stadt und in benachbarten

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