NATIONAL GEOGRAPHIC

Ritzels Daten deuten darauf hin, dass Wasch- bären in der Stadt neugieriger sind als ihre Ver- wandten vom Land: Sie nahmen sich mehr Zeit, die Felder mit den Ködern zu inspizieren. Stadt- tiere sind auch häufiger paarweise unterwegs als ihre stärker revierbewussten Artgenossen auf dem Land. Das legt nahe, dass Waschbären in der Stadt ihr Verhalten an das urbane Leben anpassen. Nun will Ritzel herausfinden, „ob evo- lutionäre Veränderungen stattfinden“. ALS DIE ZOOLOGIN Sarah Benson-Amram sich vor rund zehn Jahren zum ersten Mal mit Ver- halten und Kognition von Waschbären beschäf- tigte, ging sie davon aus, dass eine derart weit verbreitete Art bereits eingehend erforscht war. Schließlich sind die Allesfresser mit ihrem bu- schigen Schwanz Ikonen der Popkultur, scherz- haft werden sie Müll-Pandas genannt. Aber in der wissenschaftlichen Literatur fand Benson- Amram so gut wie nichts. Anfang des 20. Jahr- hunderts hatten einige Wissenschaftler damit begonnen, die schlauen Tiere zu erforschen. Aber als ihre Untersuchungsobjekte immer wieder aus den Käfigen ausbrachen, gaben sie auf. Bisher hat Benson-Amrams Forschung den Ruf der gewieften Waschbären bestätigt. In einem Experiment zum Umkehrlernen setzte sie Waschbären, Kojoten und Stinktieren eine Kiste vor, die mit einem Knopf oder Fußhebel ausgestattet war und Futter freigab, wenn der Hebel betätigt wurde. Nachdem die Tiere he­ rausgefunden hatten, wie sie an die Nahrung kommen, wechselten die Forschenden die Knöpfe und Pedale, sodass die Tiere ihre Strate- gie anpassen mussten. Die meisten Waschbären lösten das Problem schon in der ersten Nacht. Dagegen kam nur einer von sechs Kojoten mit der Kiste zurecht – und das auch erst in Nacht 44 des Experiments. Kojoten, so Benson-Amram, haben in der Stadt eine andere Überlebensstrategie als Waschbären. „Sie haben Erfolg, indem sie die Menschen nicht ausnutzen, sondern ihnen aus dem Weg gehen.“ Ihre Studie spricht dafür, dass manche Säugetiere in den Ballungsräumen ihre kognitiven Fähigkeiten nutzen, um sich an das Stadtleben anzupassen, und angesichts von Hin- dernissen sofort etwas Neues erfinden können. Die Neurowissenschaftlerin und Verhaltensfor- scherin Kelly Lambert von der University of Rich- mond hat die Gehirne gefangener Waschbären, die für ihre guten Problemlösungsfähigkeiten

Stadtbewohner kom- men immer besser mit urbanen Herausforde- rungen zurecht. For- scher vermuten, dass Vererbung dabei eine Rolle spielen könnte.

Die Fenstergitter sind eine ideale Kletterhilfe für die Waschbären- mutter und ihre Jun- gen auf dem Hausdach von Michelle Acker- man in San Francisco.

bekannt waren, mit denen weniger innovativer Artgenossen verglichen. Wie sich herausstellte, liegt bei den Problemlösern eine größere Zahl spe- zialisierter Nervenzellen im Hippocampus, einem Zentrum für Lernen und Gedächtnis. „Das hat mich richtig umgehauen“, sagt Lambert. Außer- dem fand sie heraus, dass das Gehirn des Wasch- bären dem Primatengehirn so ähnlich ist wie kein anderes. Wie bei den Kojoten und vielen anderen Tieren in Städten muss noch weiter untersucht werden, ob nachfolgende urbane Waschbären- Generationen immer schlauer werden. „Mög- licherweise schaffen wir derzeit tatsächlich schlauere Tiere, weil wir sie vor immer schwieri- gere Probleme stellen“, sagt Benson-Amron. Das Leben der wilden Tiere in der Stadt wurde von der Wissenschaft lange Zeit kaum beachtet. „Die Verstädterung schreitet auf unserem Plane- ten immer schneller voran, und da ist es doch töricht, wenn wir sagen: Ach, um die Tiere in den Stadtlandschaften kümmern wir uns nicht“, sagt Seth Magle, Direktor des Urban Wildlife Insti- tute an Chicagos Lincoln Park Zoo. „Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen mit den Wildtieren leben.“ Über den Konflikten vergessen die Men- schen, dass sie mit Wildtieren oft wunderschöne Erlebnisse hätten, fügt Magle hinzu. „Es sollte im Zusammenleben mit den Tieren auch darum gehen, die schönen Augenblicke zu zelebrieren.“ Ich erlebte einen solchen Augenblick an einem Sommermorgen, als ich mit einigen Biologen auf einem Golfplatz Kojotenkot suchte. Auf einer Anhöhe sahen wir unmittelbar unter uns einen Kojoten mit seinem Jungen. Sein Rücken glänzte golden in der Sonne. Er blieb reglos stehen, wäh- rend der Welpe herumtollte. Wenige Sekunden später verschwand das erwachsene Tier lautlos in den Bäumen. Der Kleine warf einen letzten Blick zurück, dann verschwand auch er im Schatten. j Aus dem Englischen von Dr. Sebastian Vogel Christine Dell’Amore ist leitende Redakteurin für Tierthemen und liebt benachteiligte Arten, besonders Kojoten. Der Fotograf Corey Arnold arbeitete schon im Alter von zehn Jahren ehrenamtlich in einer Wildtierstation mit.

106 NATIONAL GEOGRAPHIC

Made with FlippingBook flipbook maker