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Römer) geschätzte 45 300 Kubikmeter Erde aus. Claudius gab der Straße seinen Namen, was zu jener Zeit selten war. Er erblindete und starb, bevor sein Lebensprojekt vollendet war. Die Via Appia durchschnitt in einer nahezu geraden Linie das Land. Das römische Heer mar- schierte auf ihr bis nach Süditalien und machte sich übers Meer gen Osten auf, um seine Herr- schaft auf andere Länder auszuweiten. Zudem war die Via Appia die erste von 29 großen Heer- straßen, die zur Blütezeit des Imperiums von Rom aus in alle Provinzen des Reichs führten. Berichte über einfache Reisen entlang der Via Appia finden sich erstmals beim römischen Dichter Horaz um 35 v. Chr. Seither mangelt es nicht an wortgewandten Bewunderern. Doch die Wertschätzung für die technische Meis- terleistung schwand mit dem Niedergang des Römischen Reiches ab 395 n. Chr. Nach und nach wurde die Trasse nicht mehr genutzt. Der englische Schriftsteller Charles Dickens beklagte 1846 in einem Buch „Grabmäler und Tempel, umgestürzt und darniederliegend“. Die Wende kam erst, als der italienische Schrift- steller Paolo Rumiz sich im Jahr 2015 vornahm, die Via Appia im Auftrag der Zeitung La Repub- blica zu erwandern. Es existierte keine aktuelle Karte der Strecke. Also kontaktierte er Riccardo Carnovalini, einen bekannten Wanderer, der fast vier Jahrzehnte lang Italien durchstreift hatte. Zwei Monate lang legte Carnovalini militäri- sche Karten, Aufzeichnungen über alte Hirten- pfade und Satellitenbilder übereinander, um den Verlauf der alten Via Appia zu kartieren. Seine Ergebnisse speicherte er auf einem GPS-Gerät. Dann machten sich die beiden auf den Weg. Rumiz’ Reisebericht weckte die Aufmerksam- keit des Kulturministeriums. Noch im selben Jahr kündigte Italiens Regierung die Neubele- bung der Route an. Gesetzeswidrige Bautätigkei- ten hatten über die vergangenen Jahrhunderte dazu geführt, dass archäologische Schätze in Privatbesitz landeten und historische Villen rücksichtslos umgestaltet wurden. Inzwischen haben Konservierungsmaßnahmen begonnen, doch es besteht die Gefahr, dass die Via Appia erneut in Vergessenheit geraten könnte, falls keine Touristen sich für sie interessieren. „Wandern“, sagt Carnovalini, als ich ihn auf der Via Appia treffe, „ist der denkbar politischste Akt, um eine Landschaft zu verändern.“ Noch halten zu viele Hindernisse Wanderer fern, allen voran die schwer nachvollziehbare Route sowie

der Mangel an Unterkünften und Infrastruktur. Das will Angelo Costa ändern. Sein Studio Costa ist eines von drei Architekturbüros, die die Via Appia zu einer Wanderstrecke umgestalten sol- len. Costas Vorschlag folgt einem historischen Vorbild. So fanden die alten Römer etwa alle 16 Kilometer eine Station zum Wechseln der Pfer- de und etwa alle 32 Kilometer ein Rasthaus vor. Costa stellt sich 29 Wanderabschnitte zu je sechs Stunden vor. Reisende sollen die Arenen berühmter Gladiatorenkämpfe erkunden, in ein- fachen Gasthäusern übernachten und regionale Speisen kosten können. Rastplätze, Unterkünfte und Sehenswürdigkeiten werden in einer App zu finden sein. Weniger attraktive Abschnitte werden nicht versteckt, sondern sollen eine authentische Erfahrung ermöglichen. Es gibt allerdings einen ernst zu nehmenden Rivalen: den Jakobsweg. Spaniens berühmter Pilgerweg zieht für gewöhnlich 300 000 Wan- derer im Jahr an, und sein Ziel, Santiago de Compostela, empfängt mehr als zwei Millionen Touristen jährlich. Der Weg von Rom nach Brin- disi ist zwar eine säkulare Reise durch die ita- lienische Geschichte. In umgekehrter Richtung dagegen wandelt man auf den Spuren des Apos- tel Paulus auf seinem Weg von Jerusalem nach Rom. Verglichen mit dem Jakobsweg, sagt Costa, sei „die Natur hier noch besser, die Geschichte 200-mal besser. Und am Ziel wartet der Papst.“ II. DER START MEINE REISE ENTLANG der Via Appia sollte naturge- mäß an deren Anfang starten. Bald jedoch muss ich feststellen, dass der noch gar nicht freigelegt wurde. Die ersten Steine liegen vermutlich im Zentrum von Rom verborgen, in der Nähe eines Verkehrskreisels kurz vor dem Kollaps. Gegen- wärtig versucht das Kulturministerium, die Pflaster zu lokalisieren, ohne den Verkehr aus- zubremsen. Daher werden kleine Abschnitte bis in die Tiefe ausgehoben – bislang ohne Erfolg. Ein paar Kilometer weiter südlich liegt der Regionalpark Via Appia Antica. Er ist der am besten erhaltene Abschnitt der Römerstraße und ein beliebtes Naherholungsgebiet. Der Park windet sich vom Zentrum zum Stadtrand, beid- seits gespickt mit um die 400 archäologischen Fundstätten: römische Villen mit Mosaiken, ein frühchristliches Katakomben-Labyrinth mit einer halben Million Verstorbener, Mausoleen

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