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von versklavten Menschen ebenso wie von jun- gen Damen der höheren Gesellschaft. Der klassische Rom-Tourist besucht für eine kurze Stippvisite die Ewige Stadt, bevor er nach Florenz und Venedig weiterreist. Und er konzen- triert sich auf die berühmten Stätten: Vor der Covid-19-Pandemie suchten 100 000 Besucher jährlich den Regionalpark auf, während etwa drei Kilometer nördlich das Kolosseum über sieben Millionen anzog. Dafür herrscht eine friedliche Atmosphäre in dieser grünen Oase, nicht vergleichbar mit anderen viel besuchten Sehenswürdigkeiten Roms. Je weiter die Basaltsteine aus der Stadt hinaus- führen, desto spärlicher sind sie von archäologi­ schen Stätten flankiert. Bald steht nur noch eine einsame Säule inmitten üppiger Felder. Pinien- kronen spenden Schatten, ab und zu stehen Springbrunnen und Schilder, die auf historische Sehenswürdigkeiten hinweisen, in der Land- schaft. Sobald die Pflasterung beim Fast-Food- Restaurant angelangt, verschwindet sie. III. DIE ZEITREISE UM DEN VERLAUF DER VIA APPIA über Rom hin- aus zu ermitteln, wende ich mich an Riccardo Carnovalini, den Wanderer, der die Strecke 2015 kartiert hat. Wir treffen uns in der kleinen Stadt Benevento in einem Restaurant am Platz. Car- novalini, 64, trägt Zip-off-Wanderhosen, eine Fleecejacke und Stiefel, die schon an die 725 Kilo- meter hinter sich haben. Auf unserem Tisch stehen frittierte Zucchiniblüten und Kabeljau in Tomatensauce. Bei unserem Aperitif mit fri- scher Minze zitiert er noch den italienischen Schriftsteller Italo Calvino, der einmal schrieb, ein besuchtes Land müsse „über die Lippen und die Speiseröhre runter gehen“. Als Carnovalini zusammen mit Paolo Rumiz zum ersten Mal die Via Appia erwanderte, war ihr Weg am Ende etwa 80 Kilometer länger als die eigentliche Trasse. Die Moderne hatte einen Großteil des antiken Weges verschlungen, und so waren die beiden gezwungen, Umwege um Fernstraßen und Gewerbegebiete zu nehmen. Wir sind 225 Kilometer von Rom entfernt. Car- novalini zufolge markiert die Gegend den Start- punkt zahlreicher Unstimmigkeiten über den ursprünglichen Verlauf der Via Appia. Um die Route nachzuvollziehen, hat Carnovalini Kar- ten, Straßenwinkel und Baumaterialien studiert

und die gangbarste Variante gewählt. Zugleich zeigen pinke und blaue Linien auf seinem GPS mögliche Alternativen an. „Es gibt noch andere Wanderwege“, sagt er, als die Kellner allmählich die Stühle hochstellen. „Aber das hier ist halt kein Spaziergang. Das ist Geschichte.“ Am folgenden Tag kommen wir an Traktoren vorbei, die mit überladenen Anhängern durch Tabakfelder knattern, an Hügeln, auf denen sich Windmühlenflügel drehen, und an Feldern, auf denen kontrollierte Brände ausglühen. Carnova- lini wandert mühelos, knackt zwischenzeitlich Haselnüsse und pflückt Trauben am Wegesrand. Die Via Appia wurde von verschlafenen Dör- fern buchstäblich vereinnahmt. Ihre Steine und Säulen wurden in Mauern und Torbögen inte- griert. Über lange Strecken bestätigt allein die rote Linie auf Carnovalinis GPS, dass wir uns noch auf der richtigen Route befinden.

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