Was die Umweltbedenken angeht, räumt Étienne ein, dass tatsächlich viele Bäume gefällt wurden, um die Trasse zu bauen. Doch im Gegenzug werden im Rahmen eines Bundesprogramms für Landarbeiter derzeit 500 Millionen neue Bäume in der Region gepflanzt, weitaus mehr, als abge- holzt wurden. Es ist eines der größten Wie- deraufforstungsprojekte weltweit. Nach Regierungsangaben wurde außerdem das Biosphärenreservat Calakmul, durch das die Trasse hindurchführt, um mehr als eine halbe Million Hektar erweitert. Dass das Militär die Führung übernahm, war laut Étienne notwendig. Mexiko sei über- sät mit halb fertigen Projekten, und ohne Einsatz der Streitkräfte hätten Aktivisten den Tren Maya möglicherweise auf Dauer behindert. Der Zug brauche keinen Gewinn zu erwirtschaften, da er schuldenfrei und öffentlich finanziert sei – hauptsächlich durch Tourismussteuern. Ob der Tren Maya eine „Beleidigung“ für die Maya darstellt, bleibt umstritten. Der Aktivist Quetzal Tzab berät unter anderem die Vereinten Nationen in Fragen indigener Rechte. Er sagt, 95 Prozent der Indigenen, die er kenne, unterstützten den Zug. Die Min- derheit der Gegner sei lediglich besonders geschickt darin, sich Gehör zu verschaffen. Zu Fragen der Archäologie nimmt Manuel Pérez Rivas, Leiter des 2000-köpfigen Teams des INAH, Stellung. Nicht alles sei perfekt ge- laufen, gesteht er ein. Einiges wurde zer- stört. Doch sein Team hat auch genau 871267 archäologisch bedeutsame Fundstücke erfasst. Es wäre die umfangreichste Rettungs- aktion von Maya-Artefakten und möglicher- weise die größte Ausgrabung aller Zeiten. „Yucatán ist etwas Lebendiges, das sich weiterentwickelt, kein Museum“, erklärt Pérez Rivas. „Wir müssen ein Gleichgewicht finden zwischen dem Lebendigen und dem Histo- rischen. Wenn wir jedes Artefakt erhalten wollten, könnten wir nie etwas Neues bauen.“ Die vom Team geborgenen Stücke aus Ob- sidian, Jade, Muschelschalen, Ton und Holz
waren, so Pérez Rivas, bemerkenswert, und zwar vor allem, weil die meisten von ihnen gerade nichts Außergewöhnliches darstellten. Es handelt sich um Gegenstände des Alltags, Messer, Schalen und Pfeifen. Wenn sie in eini- gen Jahrzehnten vollständig untersucht sind, werden sie uns ein umfassenderes Verständ- nis davon vermitteln, wie die einfachen Men- schen der Region einst lebten. Wie auch beim Tren Maya wird sich die Archäologie auf die Lebensumstände derjenigen konzentrieren, die gemeinhin übersehen werden. Es sind die frühen Tage des Tren Maya, und niemand kann absehen, wohin seine Reise letztlich führt – zum Triumph, zum Desaster oder irgendwo dazwischen. Die Fahrgastzah- len sind zunächst noch gering, aber Étienne rechnet mit einer massiven Zunahme. Der Zug, so glauben viele, könnte als globales Vorbild dienen – dafür, wie man Umwelt- bedenken und wirtschaftliches Wachstum in Einklang bringt. Wie man eine durch den Tourismus marginalisierte lokale Bevölke- rung in Profiteure verwandelt. Die Gegner behaupten das Gegenteil: dass der Tren Maya der Welt nur zeigen werde, wie man es nicht machen sollte. Sie sehen in ihm eine neue Art von Bedrohung – auch wenn diese Vorstellung am berühmten archäologi- schen Ort Chichén Itzá, ein paar Zugstationen westlich von Cancún, ins Wanken gerät. Die alten Maya bauten auf der gesamten Halbinsel Yucatán Straßen, sacbeob genannt, („weiße Wege“). Breit und leicht erhöht, verliefen sie oft schnurgerade durch den Dschungel. Sie sehen den Eisenbahntrassen sehr ähnlich. Eine davon liegt in Chichén Itzá, sie beginnt in der Nähe der Haupt- pyramide. Und dort gibt es noch etwas ande- res: Im Zentrum der Stätte befindet sich ein Bereich mit riesigen Säulen, in Viererrei- hen angeordnet – hell gefärbt, zumindest oberirdisch. Sie erstrecken sich in Richtung Wald. Ihre Ähnlichkeit mit den Pfeilern, die Rojo dokumentiert hat, ist verblüffend. Nur dass diese hier tausend Jahre alt sind. j Aus dem Englischen von Dr. Eva Dempewolf
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