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einer Nebelschicht schälten sich die Konturen des Gebäudes heraus. Niemand war zu Schaden gekommen.“ Ein kleines Wunder, hier hinten im stillen Südtiroler Langtauferer Tal, an dessen Ende sich Dreitausender wie die vergletscherte Weißkugel und die Weißseespitze aufbauen. Tage nach dem Unglück bekam Fliri Besuch von Wissenschaftlern des Lawinenforschungs­ instituts Davos. Deren Simulationen am Com­ puter ergaben eine Fließgeschwindigkeit von 60 bis 80 Stundenkilometern und eine Fließ­ schicht von zwei Metern. Das bedeutete einen Aufpralldruck von 50 Tonnen auf der Breite der Fassade. „Das Stroh hat den Druck abgefedert, ein Ziegelgebäude wäre wohl zusammenge­ stürzt“, sagt Fliri und beruft sich auf die Exper­ ten. „Niemand konnte sich das vorstellen.“

Sechs Jahre hatte er für die Genehmigung gekämpft, bis er sein Strohhaus 2008 bauen durfte, nun hatte es Leben gerettet. Boden-, Fas­ saden- und Dachfläche seines Gästehauses sind mit Stroh gebaut. Die gepressten Ballen – ein Abfallprodukt der Getreideernte – übernehmen die tragende Funktion. Ihr Isolierwert sei mit Styropor vergleichbar. „Dadurch kommen wir fast ohne Heizung aus. Der Energiebedarf liegt knapp unter vier Kilowattstunden jährlich pro Quadratmeter Wohnfläche“, sagt Fliri. Fliri, 59, ist ein Pionier – und einer von jenen, die die Alpen jetzt brauchen. Denn dieses Ge­ biet in der Mitte Europas steckt in einer Krise. Nicht die Berge, sondern der Lebensraum, die Heimat für Menschen, Tiere und Pflanzen. Dazu der jahrtausendealte Kulturraum mit seinen

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DIE ALPEN

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