NATIONAL GEOGRAPHIC

ist es eine Szene, wie sie sich jeden Tag in jeder beliebigen amerikanischen Stadt abspielt: Ein Postbote steigt aus seinem Lieferwagen und geht mit großen Schritten über die Straße. Unspektakulär. Was ihm nicht auffällt oder ihn nicht kümmert: Nur wenige Meter entfernt sitzt ein kräftiger Schwarzbär auf den Hinterbeinen und kratzt sich energisch das ausfallende Win- terfell. Direkt links von ihm, hinter einem Maschendrahtzaun, dröhnt eine viel befahrene Hauptverkehrsstraße. Für den Bären ist der Lärm offenbar nur Hintergrundrauschen. Irgendwann trollt er sich den Bürgersteig hinunter ins Wohnviertel. Die Innenstadt von Asheville in North Carolina ist keinen Kilometer entfernt. An diesem Highway haben Forscher eine faszinierende Entde- ckung gemacht: eine tief ausgehöhlte Stelle in einem knorrigen alten Silber-Ahorn. Dort hat der Bär N209, ein Weibchen, das wie einige Hundert weitere an der Studie beteiligte Bären mit einem Funkhalsband ausgestattet wurde, seinen Winterschlaf gehalten. Trotz des Verkehrs, der wenige Meter entfernt vorbeirauschte. „Die Bären überraschen mich immer noch“, ruft mir Colleen Olfenbuttel über den Verkehrslärm hinweg zu. Die Biologin, Expertin des Bundesstaates für Schwarzbären und andere Pelz- tiere, hält die Leiter fest, während ein Kollege in die Baumhöhle klettert und den Schlafplatz vermisst. Es ist der größte Baum, den Olfenbuttel in den 23 Jahren, in denen sie sich mit Schwarz- bären beschäftigt, gesehen hat. „So viel Anpassungsfähigkeit hätten wir ihnen nie zugetraut“, sagt sie. Es ist verblüffend, wie heimisch die Schwarzbären in Ashe- ville sind. In der modernen Stadt in den Blue Ridge Mountains schlurfen sie am helllichten Tag durch die Wohnstraßen. Einige der 95 000 Bewohner haben die behaarten Nachbarn akzeptiert. Fast jeder, den man fragt, hat ein Video von der letzten Begeg- nung mit einem Bären auf dem Handy. Manchmal entstehen die Aufnahmen direkt vor der Haustür. Dass die Bären in Asheville und anderswo heimisch wurden, liegt an der veränderten Landnutzung und dem üppigen Nah- rungsangebot im Umfeld der Menschen. Das hat die Population in Nordamerika auf fast 800 000 Tiere anwachsen lassen. Zugleich haben zersiedelte Städte und Vororte den Bären große Teile ihrer Lebensräume geraubt. Sie hatten kaum eine andere Wahl, als sich auf das Zusammenleben mit den Zweibeinern einzustellen. Das Phänomen tritt nicht nur in den Vereinigten Staaten, son- dern auf der ganzen Welt auf; und es beschränkt sich auch nicht AUF DEN ERSTEN BLICK

Die National Geographic Society setzt sich dafür ein, die Wunder unserer Erde zu beleuchten und zu schützen. Seit 2019 unterstützt sie das Fotoprojekt des Explorers Corey Arnold über Waschbären. ILLUSTRATION: JOE M C KENDRY

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