VAN Art Space
Ein künstlerisch-kuratorisches Projekt als Versuch in prekären Zeiten selbstbestimmt tätig zu bleiben
Sophia Hatwagner
Eidesstattliche Erklärung
Ich, Sophia Hatwagner, versichere hiermit, dass ich die vorliegende Arbeit mit bestem Wissen und Gewissen selbstständig verfasst habe. Alle dazu verwendeten Materialien sind im Anhang verzeichnet, Zitate und Vergleiche sind sinngemäß an den jeweiligen Stellen im Text vermerkt und als solche kenntlich gemacht. Weiteres erkläre ich, dass diese Diplomarbeit weder im Inland noch im Ausland in irgendeiner Form als Prüfungsarbeit vorgelegt wurde.
Wien, den 26. April 2021, Unterschrift
DANKE!
Joonas Lahtinen, Elke Krasny, Philip Schleinzer, Simon Walterer, Sara Schmidt, Mario Kiesenhofer, Greta Gabriel-Hatwagner, Karin Hatwagner, Hrodwin Schlager, Johanna Opitz, Elisabeth Schürz, Iris Julian, Teresa Julia Kurzbauer, Mariella Lehner
und allen anderen, die mich bei meinem Projekt und der Diplomarbeit unter- stützt haben.
Abstract
Based on the artistic-curatorial project VAN Art Space and its theoretical- discursive contextualization, this thesis explores the question of how an independent and largely self-determined art and exhibition practice can be established despite various forms of prevailing resource scarcity and a so- cially neoliberalist ethos. The central topics of this thesis are financial, tem- poral, institutional, presentation-, and attention-related resources, as well as problems associated with the compatibility of everyday family life and artistic professional activity. By means of theoretical-analytical reflection on the problematic of resources and the history and significance of the White Cube , and through the conception and realization of the VAN project, this thesis shows how a nuanced artistic-curatorial attitude and practice towards neoliberalism can be developed. In addition to the approaches of Bojana Kunst, Marion von Osten, Brian O’Doherty, Simon Sheikh, Gregory Sholette, Juliane Reben- tisch, and Isabelle Graw, the autobiographical experiences of the author of this thesis are incorporated into the analysis and artistic-curatorial project development.
Abstract
In der vorliegenden Diplomarbeit wird anhand des künstlerisch-kuratorischen Projektes VAN Art Space und dessen theoretisch-diskursiver Kontextuali- sierung der Frage nachgegangen, wie eine eigenständige und weitgehend selbstbestimmte Kunst- und Ausstellungspraxis trotz verschiedener Formen der vorherrschenden Ressourcenknappheit und eines gesellschaftlich neo- liberalistischen Ethos etabliert werden kann. Zentrale Themen dabei sind sowohl finanzielle, zeitliche, institutionelle, präsentations- und aufmerksam- keitsbezogene Ressourcen als auch Problematiken, die mit der Vereinbarkeit des Familienalltags und der künstlerischen Berufstätigkeit einhergehen. Mittels theoretisch-analytischer Reflexion zur Ressourcenproblematik und zur Geschichte und Bedeutung des White Cube , sowie mittels der Kon- zeption und Realisierung des VAN-Projekts, wird in dieser Diplomarbeit nachvollzogen und gezeigt, wie gegenüber dem Neoliberalismus eine nuan- cierte künstlerisch-kuratorische Haltung und Praxis entwickelt werden kann. Neben Ansätzen von Bojana Kunst, Marion von Osten, Brian O’Doherty, Simon Sheikh, Gregory Sholette, Juliane Rebentisch und Isabelle Graw flie- ßen die autobiografischen Erfahrungen der Verfasserin dieser Diplomarbeit in die Analyse und die künstlerisch-kuratorische Projektentwicklung mit ein.
Inhalt
Einleitung
1
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Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie Begriffsdefinitionen: Prekarität, Neoliberalismus, Postfordismus Female Artists und Postfordismus – Kunst, Kind, Alltag Sichtbarkeit, Prekarität und Subversivität in der Kunst in Zeiten von Covid-19
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2.1
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2.2
21
2.3
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Institutionskritik und White Cube Institutionskritik bis Institution der Kritik
3
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3.1
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White Cube – Geschichte und Bedeutung
3.2
31
Inhalt
VAN – Ausstellungsprojekt
4
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Artist Statement und Vorgeschichte des VAN-Projekts
4.1
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Projekt VAN Reflexion und Zukunftspläne
4.2
41
4.3
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Conclusio
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5
Literaturverzeichnis Abbildungsverzeichnis
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1 Einleitung
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
Die vorherrschenden, immer prekärer werdenden ökonomischen und sozia- len Bedingungen im Kunstbereich stellen viele Künstler_innen zunehmend vor die existenzielle Frage, wie künstlerische Produktion weiterhin möglich sein kann. In der vorliegenden Diplomarbeit wird anhand eines künstle- risch-kuratorischen Projektes und dessen theoretisch-diskursiver Kontextua- lisierung der Frage nachgegangen, wie eine eigenständige und weitgehend selbstbestimmte Kunst- und Ausstellungspraxis trotz verschiedener Formen der Ressourcenknappheit etabliert werden kann. Die autobiografischen Er- fahrungen der Verfasserin dieser Diplomarbeit fließen in die Analyse und künstlerisch-kuratorische Projektentwicklung mit ein. Geht man davon aus, dass Künstler_innen sich mit der sie umge- benden Welt intensiv befassen, so lässt sich vermuten, dass diese Themen zunehmend Eingang in die künstlerische Praxis nehmen – was sich auch empirisch bestätigen lässt. Dazu schreibt der Kulturtheoretiker und Kunst- historiker Marko Stamenkovic:
„The articulation of voices to be heard and under- stood within the ‚silenced society‘ of contem- porary neoliberalism […] must play a significant role in defining the status and positions of contemporary artists in the neoliberalism.“ (Stamenkovic, 2008)
Dabei müssen sowohl die ökonomischen Bedingungen, Fragen der Sicht- barkeit und der Präsentationsmöglichkeiten und Rezeptionsmodi als auch die sozialen Verstrickungen und das Verhältnis von Kunst und Kapitalismus in und durch die künstlerische Arbeit thematisiert werden. In folgender Aus- einandersetzung wird der White Cube – als die noch immer gängige Prä- sentationsform von „etablierter“ Kunst – als der zentrale Ort verstanden, wo Kunst und Kapital aufeinandertreffen. Die Problematik der Sichtbarkeit sowie der Präsentation und Rezep- tion von Kunst begleitet mich in meiner künstlerischen Arbeit schon lange. Meine künstlerische Praxis ist wiederholt durch das Nachdenken über die Produktionsbedingungen der Kunst geprägt. Ich versuche stets, die theore- tischen Erkenntnisse in Bezug zur künstlerischen Arbeit zu setzen und um- gekehrt. In dieser Diplomarbeit beziehe ich mich insbesondere auf die theore- tisch-diagnostischen Ansätze und Analysen von Bojana Kunst, Marion von Osten, Brian O’Doherty, Simon Sheikh, Gregory Sholette, Juliane Reben- tisch und Isabelle Graw. Im Laufe meiner theoretischen Recherche und in Bezug auf meine weitere künstlerische Vorgehensweise ist die Idee zum Pro- jekt VAN Art Space entstanden, ein Kunstraum im Kofferraum meines Autos. Das Projekt VAN verhandelt diese Themen auf einer formalen Ebene des Kunstwerkes, kann aber gleichzeitig als eine kritisch-produktive Reflexion an den bestehenden wirtschaftlichen Verhältnissen und als eine nuancierte Form von Institutionskritik am White Cube verstanden werden. Die Wahl des Themas der vorliegenden Arbeit ergab sich zum Teil aus meiner eigenen Ressourcenknappheit in Bezug auf das künstlerische Arbei- ten, andererseits aus dem immer wiederkehrenden Gefühl der produktiven Ohnmacht und Erschöpfung in Bezug auf das politische Leben und die Sicht- barmachung meines künstlerischen Schaffens. Ich bin in meiner derzeitigen
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Einleitung
Abbildung 1: Hatwagner, Sophia (2021): VAN Art Space, Wien.
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
Lebenssituation zeitlich sehr eingeschränkt, mein Status als Alleinerzieherin eines Kleinkindes, mit Doppelstudium bei gleichzeitiger Berufstätigkeit kann als „Leben mit knappen Ressourcen“ bezeichnet werden. Die anhaltende Covid-19-Pandemie und die daraus resultierenden Einschränkungen und Absagen im Kunstbetrieb haben meine Situation zusätzlich erschwert. Das Interesse der vorliegenden Arbeit liegt im Ausloten differenzierter und realisierbarer Vorgehensweisen meines eigenen künstlerischen Schaf- fens, welche sich rückblickend im beschriebenen Kunstprojekt (selbst)er- mächtigend ausgewirkt haben. Diese Diplomarbeit zeigt einen vieler mög- licher Wege auf, um künstlerisch in der aktuellen prekären Situation agieren zu können und geht der Frage nach, wie man gegenüber dem Neoliberalis- mus in einer solch unsicheren Situation eine nuancierte, kritische, künstleri- sche Haltung entwickeln kann. Im zweiten Kapitel werden wichtige Begriffe für die Analyse, wie Prekarität , Neoliberalismus und Postfordismus , eingeführt und im Weiteren auf die Zusammenhänge von künstlerischer Produktion und Kapitalismus hingewiesen. Zentrale Themen dabei sind Projektarbeit, prekäre Arbeit und die Wiederaufhebung der Grenze zwischen Leben und Kunst. Der zweite Teil des Kapitels legt den Fokus auf die weibliche Künstlerin, welche auf- grund struktureller Unterschiede häufiger zwischen (Erwerbs-)Arbeit, künst- lerischer Produktion und unentgeltlicher, reproduktiver Care-Arbeit hin- und hergerissen ist. Im dritten Kapitel befasse ich mich mit kulturtheoretischen Ansätzen im Bereich der bildenden Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Dabei wer- den zwei wesentliche Debatten vorgestellt, die eine enge Verbindung zwi- schen Kunstschaffen und der Infragestellung der individuellen Autonomie veranschaulichen. Institutionskritik und die Diskussion um den White Cube stehen im Zentrum dieser schriftlichen Arbeit und somit in direktem Bezug zu meinem Projekt VAN Art Space. Die Beschreibung meiner künstlerischen Arbeitsweise ist das Thema des vierten Kapitels. Es beschäftigt sich mit der Installation als Kunstform, deren Bedeutung durch die Debatten um den White Cube und Institutions- kritik genährt wurde. Anschließend folgt eine ausführliche Beschreibung meines künstlerisch-kuratorischen Projektes VAN Art Space, gefolgt von einer selbstkritischen Reflexion dieses Projektes. Das Ergebnis meiner Diplomarbeit mündet im Ausstellungsformat VAN Art Space. Es hat sich, so die Conclusio, als ein passendes Format er- wiesen, um die Auseinandersetzung mit institutionskritischen Ansätzen, die Debatte um den White Cube und die Lebensrealitäten unserer Gegenwart zusammenzudenken und diese Verhältnisse kritisch zu reflektieren.
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Einleitung
2 Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
Begriffsdefinitionen: Prekarität, Neoliberalismus, Postfordsimus
2.1
Prekarität Der Begriff Prekarität ist eng verknüpft mit den Lebensverhältnissen von Kunstschaffenden nicht nur in der bildenden Kunst, sondern aller Genres wie auch Literatur, Film und Performance. In der jüngeren Vergangen- heit wird Prekarität jedoch nicht nur auf marginalisierte gesellschaftliche Gruppen bezüglich Erwerbssicherheit angewandt – Künstler_innen oder auf dem Arbeitsmarkt durch mangelnde Ausbildung oder atypische Be- schäftigungsverhältnisse schlecht gestellte Personen – sondern ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen (vgl. Lorey, 2012, S. 13). Durch die im Spätkapitalismus „zunehmende ökonomische Instabilität“ (Siegele & Siclodi, 2020) seien alle Menschen in entwickelten Industriestaaten da- von betroffen. Der Philosoph Maurizio Lazzarato begründete den Begriff in den 1990er- Jahren, um vor allem auf die spezifischen Bedingungen der „immateriellen Ar- beit“ hinzuweisen, die nahezu „charakteristisch für das Kunstfeld sind“ (ebd., S. 156). Jene Arbeitskultur der künstlerischen Produktion sei von einem ho- hen Maß an „Engagement, Eigenverantwortlichkeit, persönliche[r] Motivation, Anpassungsfähigkeit und Risikobereitschaft“ (ebd., S. 157) gekennzeichnet. Es sind genau diese Eigenschaften, welche seit den späten 1960er- Jahren von Kunstschaffenden verkörpert wurden und deren Akteur_innen damals unter dem Begriff der „Institutionskritik“ gegen einen ungezügelten Kapitalismus protestierten. Wie Boltanski und Chiapello in ihrem Werk Der neue Geist des Ka pitalismus (1999) analysieren, war es „nur allzu logisch, dass diese – proble matische, da die bürgerliche Mythologisierung des KünstlerInnensubjekts und dessen Erzeugnisse reproduzierende – Ansicht in internationalen Ma- nagementkreisen rezipiert und zur Gestaltung einer neuartigen Form der Unternehmensführung angewandt wurde.“ (Siegele & Siclodi, 2020, S. 157) Neoliberalismus Ursprünglich stellt der Begriff Neoliberalismus von Alexander Rüstow (1938) einen bewussten Gegenentwurf zur Idee einer völlig deregulierten, taylo- ristischen Wirtschaftsordnung dar. Er wurde als eine Neuinterpretation der marktwirtschaftlichen Ordnung geprägt und erfuhr im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Umkehrung ins Negative. Die heute gängige Bedeutung wird mit einem an Einfluss schwächer werdenden Staat als Regulativ und damit einhergehenden (der Gesellschaft nachteiligen) Privatisierungen, Sozialabbau und der Idee der eigenen Ar- beitskraft als Humankapital verknüpft (vgl. Felber, 2013). Marko Stamenkovic meint, dass die vorherrschenden politischen, sozialen und ökonomischen Aspekte der heutigen Gesellschaft als ein Bündnis zwi- schen dem vorherrschenden neoliberalen Regime der Globalisierung und der demokratischen Politik erkannt werden müssen:
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Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie
„Today, when the whole of society is productive, and becomes a site for the articulation of capital (the issue of productivity as understood under the conditions of planned, fostered and inevit able consumerism), it is necessary to deal with the idea of (artistic and cultural) production in the given conditions, without being reduced to a simply consumerist cultural subject.“ (Stamenkovic, 2008)
Die Ökonomisierung der Kunst bzw. des gesamten Kunstsektors nimmt wesentlichen Einfluss auf die Produktionsbedingungen Kunstschaf- fender. So könnte man annehmen, dass jeder Versuch einer systemkriti- schen Kunst im neoliberalen System einem Marktwert unterworfen wird. Postfordismus Um Postfordismus hinlänglich zu verstehen, bedürfte es einer intensiven his- torischen Abhandlung von der Industriellen Revolution über den Fordismus bis hin zu seiner Ablösung (vgl. Langenegger, 2016). Im Wesentlichen be- schreibt dieser Begriff die Verschiebung der durch Henry Ford geprägten, standardisierten Produktionsweise auf die zeitliche Nachfolge dieser Ära. Die Folgen reichen bis zur individuellen Ebene der Organisation von Arbeit und Produktion, samt all ihren gesellschaftlichen, sozialen und wirtschafts- politischen Auswirkungen. Kurzum bezeichnet der Postfordismus die Umstellung einer zentral organisierten und auf massenhafte Ware ausgelegte Produktion hin zu einer zeitlich und örtlich unabhängigen als Projekt organisierten, individuellen Produktion (vgl. Loacker, 2010; Langenegger, 2016; Siegele & Siclodi, 2020). Künstlerische Arbeit kann seit jeher als Prototyp für postfordistische Arbeits- weise betrachtet werden, weshalb sich die neuere Literatur mit dieser The- matik beschäftigt. Künstlerische Tätigkeit geht meist mit einem hohen Identifikations- maß einher, wobei Idee, Produktion, Präsentation und Distribution aus einer Hand für das ultimative, postfordistische „unternehmerische Selbst“ steht (Brunnett, 2009, S. 58). Auch eine „Entgrenzung der Arbeit“ steht im Zentrum des künstleri- schen Individuums, da die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und Kunst und Leben ständig zu verschwimmen drohen oder bewusst nicht gezogen werden. Die Identifikation als „Künstler_in“ schließt eine Trennung zwischen Freizeit und Arbeit häufig aus:
„Today, the vanishing dividing line between life and work, placed by many twentieth-century ar- tists at the core of their emancipation tendencies is also at the centre of the capitalist processes of life exploitation. It often seems that the artist is the ideal worker in contemporary capitalism; it is also no coincidence that the artistic lifestyle and the exploitation of life as an endless creative process underlie the speculation on the future value of art.“ (Kunst, 2015, S. 137 f.)
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
Diskussionen über die Nähe von künstlerischer und kapitalistischer Arbeit wurden bereits Ende der 1990er-Jahre, vor allem unter dem Einfluss von Luc Boltanski und Eve Chiapello geführt, um die Zusammenhänge zwi- schen künstlerischer Subjektivität und der Subjektivität des zeitgenössischen Kapitalismus offenzulegen (vgl. Kunst, 2015, S. 139).
Female Artists und Postfordismus – Kunst, Kind, Alltag
2.2
Das Leitbild der künstlerischen Subjektivität stellt die effizienteste Reprä- sentation des Verschwindens der Differenz zwischen Leben und Arbeit, Nicht-Arbeit und Arbeit sowie Arbeit, Produktion und Reproduktion dar. Die- sem Verschwinden der Differenz haben sich auch häufig feministische Künst- ler_innen und Theoretiker_innen gewidmet, da dieses Verhältnis bei Künst- lerinnen nochmals verstärkt zutage tritt. Bojana Kunst schildert unter Bezug auf Marion von Ostens Text „Irene ist Viele! Or What We Call ‚Productive Forces‘“ von 2009, wie sich Selbst- ermächtigung und Selbstausbeutung unter neoliberalen Bedingungen zuein- ander verhalten. Im Postfordismus sind es unsere kognitiven Fähigkeiten, die wir optimieren sollen und unser Selbstverständnis zur Arbeit, das sich als „In- teresse am lebenslangem Lernen“ formuliert (Kunst, 2015, S. 146). Zusätzlich prägen Beschleunigung und Profitmaximierung als notwendige Logik des Marktes unseren Alltag, indem das Leben optimiert und einer permanenten Effizienzsteigerung unterzogen wird. Marion von Osten, die auf die Bojana Kunst verweist, kritisiert in „Irene ist Viele!“ das Verschwinden der Grenze zwischen Leben und Arbeit. Anhand des Filmes „Die Allseitig Reduzierte Per- sönlichkeit – Redupers“ von Helke Sander (1978) zeichnet Marion von Osten das Leben einer alleinerziehenden Künstlerin im Berlin der 1970er-Jahre nach. Diese changiert täglich zwischen verschiedenen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beschäftigungsfeldern; zwischen der Arbeit als Künstlerin, als feministische Aktivistin und als alleinerziehende Mutter, zwischen reprodukti- ver Arbeit im Haushalt und Erwerbsarbeit als Fotografin. Als Teil eines Künst- lerinnenkollektivs organisiert die Protagonistin des Films eine Ausstellung. All diese Tätigkeiten übt sie aus, um selbstständig und unabhängig bleiben zu können, entsprechend der feministischen Ideale, für die sie kämpft und ein- steht. Eine bewusste Entscheidung, die jedoch zunehmend vom kapitalisti- schen Verwertungsprozesses vereinnahmt wird (vgl. Kunst, 2015, S. 147). „The emancipatory struggle that had the good life as its objective now reappears in the unsatisfied longing for change and the struggle to survive” (von Osten, 2009), stellt von Osten dazu fest. Bojana Kunst schreibt weiter, dass die „autonome“ Produktion nicht die gesellschaftlichen Widersprüche transzendiert, stattdessen werden die- se nur verkörpert und dadurch verschärft (vgl. Kunst, 2015, S. 148). Das heißt, die „erlangte“ Freiheit verwandelt sich in eine tägliche Abhängigkeit von selbst auferlegten Aufgaben und Projekten (vgl. ebd.).
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Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie
Dieses Verschwinden der Grenzen zwischen Leben und Kunst, so Bojana Kunst, verweise auf die problematischen sozialen Gegensätze im Postfordismus, weil soziale und politische Arbeit dort zusammenfielen. Die einzige Möglichkeit dieser Verbindung von Leben und Arbeit sei die fort- währende Politisierung, indem man die zuvor beschriebenen Paradoxien der zeitgenössischen Autonomie – in Form von Wahl und Selbstorganisa- tion – als Illusion aufdeckt (vgl. Kunst, 2015, S. 149). Marion von Osten erkennt in Sanders Film einen wichtigen Bezug zur Selbstvermarktung:
„A work subject who is able to find a productive relationship between work time and life time is ‚supported and challenged,‘ and within this relationship private activities are also geared toward economic use value. The entrepreneur of one’s own labor should also be the artist of his/ her own life. The hope that these paradoxical demands could become dominant labor-market politics is likely due to the fact that under such conditions, workers can always feel ‚liberated‘ from constraints, as Helke Sander’s film was already able to show in 1978.“ (von Osten, 2009)
Ganz im Sinne des postfordistischen „unternehmerischen Selbst“ wird die Identifikation mit der Arbeit als ein befreiender Akt empfunden, analysiert Bojana Kunst:
„Artistic and professional emancipation therefore does not mean the emancipation from traditio- nal stereotypes and expectations; it does not enable a better economic status either, because the disappearance of this border is part of the contemporary exploitation of work.“ (Kunst, 2015, S. 149)
Darum sei es wichtig, die Rolle der Arbeit von Künstler_innen zu überdenken und zwischen der Aneignung des Wertes des Lebens der Künstlerin und dem Leben selbst zu trennen:
„The projection of the speculative value of artistic life shows that the formation of life is at the core of contemporary value production, because our lives are becoming our principal tasks (work). And if there is no additional value (profit) to our work any longer, we are no longer worthy of life (investment).“ (Kunst, 2015, S. 151)
Das Leben der Protagonistin im genannten Film gleicht dem vieler mir bekannter Künstlerinnen heute. Das Changieren zwischen verschiedenen Lebensrealitäten und dem Gefühl, selbstermächtigt zu handeln, geht mit einer permanenten Selbstausbeutung einher.
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
Sichtbarkeit, Prekarität und Subversivität in der Kunst in Zeiten von Covid-19
2.3
Die Corona-Krise verschärft einerseits bereits bestehende soziale und öko- nomische Ungleichheiten – was nochmals die strukturelle Benachteiligung von Frauen, sichtbarer macht – andererseits zeichnen sich im Kunst- und Kultursektor zunehmend ökonomische Differenzen und Unsicherheiten ab, auch in Bezug auf die Produktionsbedingungen vieler Künstler_innen. Die Kunstkritikerin Isabelle Graw schreibt, der Kunstmarkt entwickle sich zu einer „exklusiveren, intransparenten Zone“ (Graw, 2020), die zuneh- mend nur privilegierten Sammler_innen, Auktionshäusern und anderen Insti- tutionen der obersten Ränge Zutritt erlaubt, indem seit der Corona-Krise für exklusive Kreise immer mehr private sales und private viewings stattfinden. Für die weniger privilegierten Künstler_innen sind jedoch Ausstellungstermi- ne, Vertriebskanäle wie Galerien und Museen, aber auch soziale Praktiken, etwa in Form von Ausstellungseröffnungen, weggefallen. Vor allem diese sozialen Praktiken des Netzwerkens, durch welche ein für die Kunstproduk- tion essenzieller, symbolischer Wert geschaffen wird, seien durch Veranstal- tungsverbote im Rahmen der Corona-Maßnahmen nicht mehr möglich, so Graw (vgl. ebd.). Laut Graw ist der Wert der Kunst kein inhärenter, denn die Ware Kunst muss durch soziale Rituale wie Eröffnungen und Dinnerpartys immer wieder situativ neu ausgehandelt werden. Da diese im Moment durch die Masken- pflicht erschwert oder durch „Lockdowns“ komplett untersagt werden, ste- he der Wert der Kunst heute auf unsicherem Terrain (vgl. ebd.). Der verheißungsvolle Ausweg vieler Galerist_innen und Kunstprodu- zierenden aus dieser Krise besteht darin, ihre Kunst im Internet zu zeigen und Ausstellungen in Form von online viewing rooms sichtbar zu machen. Dies lasse die Wahrnehmung jedoch verflachen und reduziere die symboli- sche Bedeutung und damit auch den Symbolwert von Kunst, so Graw (vgl. ebd.). Was sich aus diesen Überlegungen für all jene Künstler_innen ergibt, die nicht an der Spitze stehen, ist schlicht auch die Frage nach dem Wert der Kunst. Sie betrifft vor allem Kunstschaffende, die auch das symbolischen Kapital für wertgenerierend halten. Welche Eigenschaften brauchen Künstler_innen, um erfolgreich zu sein und wie wird dieser Erfolg gemessen? Wie ist es möglich, sichtbar zu sein und gleichzeitig die Verwertungslogik eines neoliberalen Systems zu unterlaufen? Ansätze dazu liefert der Künstler und Aktivist Gregory Sholette in seinem Buch Dark Matter (2010), in welchem er problematische Funktio- nen von Kunstpraktiken in den Prozessen der neoliberalen Aneignung unter- sucht. Sholette bezeichnet den großen Teil der künstlerisch tätigen Akteure – auf welche sich die in der Minderheit befindenden Entscheidungsträger im Kunstfeld und die sogenannten Vertreter der high art stützen – als „dunkle Materie“ (Sholette, 2010, S. 1 ff.). Als sehr anschauliche Metapher dient ihm hier das Universum, wobei die dunkle Materie 96 Prozent des Kosmos ausmacht, diesen jedoch nur als
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Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie
unsichtbare Kraft zusammenhält (vgl. ebd.). Diese dunkle Materie, die vor allem für die Verwaltungs- und Entscheidungsträger_innen des Kunst- und Kulturbereichs (Kritiker_innen, Kunsthistoriker_innen, Kurator_innen, Händ- ler_innen, Sammler_innen und Museen) unsichtbar bleibt, beschreibt er wie- derum als durch unterschiedliche Motivationen angetrieben. Einerseits unterscheidet er Amateure und Hobbykünstler_innen von professionell ausgebildeten Künstler_innen. Beide hätten gemein, dass sie auf dem Kunstmarkt nicht sichtbar seien, diesen aber zu einem großen Teil mitfinanzierten. Der Unterschied zwischen diesen dunklen Materien sei je- doch, dass professionell ausgebildete Künstler_innen durch ihr „Scheitern“ auf dem Kunstmarkt unsichtbar geworden seien, jedoch trotz aller Widrig- keiten immer noch hofften, entdeckt zu werden. Somit seien eben diese Künstler_innen ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung dieser pyrami- denartigen Anordnung, welche die elitären Kunstwelt strukturiere (vgl. Sho- lette, 2010, S. 3). Als Leitfiguren dieser Fragestellungen stellt Sholette Künstler_innen- kollektive und politisch aktive Künstler_innengruppen vor, die für eine immer heller werdende Materie stünden und die sich selbstbewusst dafür entschie- den, am Rande des Mainstreams zu stehen und sich einer Institutionalisie- rung zu entziehen:
„Rather, their allegiance is with those artists who self-consciously choose to work on the outer margins of the mainstream art world for reasons of social, economic, and political critique. In a sense, these artists have learned to embrace their own structural redundancy, they have chosen to be ‚dark matter.‘ By grasping the politics of their own invisibility and marginalization they inevit ably challenge the formation of normative artistic values. Here ‚politics‘ must be understood as the imaginative exploration of ideas, the pleasure of communication, the exchange of education, and the construction of fantasy, all within a radically defined social-artist practice.“ (Sholette, 2010, S. 4)
Solche informell organisierten Mikroinstitutionen sind heute weit ver- breitet. Diese Art von selbstorganisierter „dunkler Materie“ arbeitet im öf- fentlichen Raum, in Schulen, in Form von Wohnprojekten und lokalen politi- schen Einrichtungen. Die Arbeit von Künstler_innen und Aktivist_innen zielt hier nicht darauf ab, eine bestimmte Bedeutung oder einen Nutzwert für den Kunstdiskurs oder private Interessen zu gewinnen (vgl. ebd.). Als solch eine diskursive Plattform möchte ich mein Projekt VAN Art Space auch begreifen. Das Projekt unternimmt den Versuch, sich zwischen ökonomischen Strukturen zu bewegen, was einerseits durch die prekären Umstände und mangelnde Ressourcen begründet ist, andererseits aber auch als bewusste Entscheidung begriffen werden kann. Es geht darum, sich die Unsichtbarkeit anzueignen und einen gewissen Grad an Autonomie
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Sophia Hatwagner
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und Entscheidungsfreiheit zu behalten. Das Potenzial eines solchen Pro- jektes kann jedoch nur aufrechterhalten bleiben, wenn man sich über den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Institutionalisierung bewusst ist und versucht diesen in seiner Arbeit zu unterlaufen:
„Increased visibility not only poses certain risks for any institution that seeks to enclose it but also by privileging spontaneity and discontinui- ty, repetitions and instability dark matter can seldom be sustained as a political force. What proves effective in the short term or locally remains untested on a larger scale. And that is the point we appear to be rapidly approaching: an encounter with matters of scale and the need for a new sustainable political culture of the Left. Dark matter’s missing cultural mass is both a metaphor for something vast, unnamable and essentially inert, as well as a phantasmagoric proposition concerning what might be possible at this moment of epistemological crisis in the arts and structural crisis in global capital.“ (Sho- lette, 2010, S. 4)
Erhöhte Sichtbarkeit birgt, wie Sholette es hier beschreibt, immer auch die Gefahr, einem Verwertungsprozess zum Opfer zu fallen. Dieser Aspekt wird, anhand der Institutionskritik in Bezug auf die bildende Kunst, im folgen- den Kapitel genauer erläutert.
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3 Institutionskritik und White Cube
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Sophia Hatwagner
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Institutionskritik bis Institution der Kritik
3.1
Institutionskritik bezeichnet eine Kunstrichtung, die es sich zur Aufgabe ge- macht hat, gesellschaftliche und institutionelle Rahmenbedingungen von Kunst analytisch zu untersuchen. Dabei geht es sowohl um die Produktion und den Gebrauch als auch um die Rezeption von Kunst. Betrachtet man den Begriff genauer, so scheint dieser auf einen Zu- sammenhang zwischen einer Methode (Kritik) und einem Objekt (Institution) hinzuweisen (vgl. Sheikh, 2006). Hierzu ist der Begriff Institution – wie von dem französischen Poststrukturalisten Michel Foucault in den 1960er-Jah- ren geprägt, und von dem deutschen Literaturwissenschaftler Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“ von 1974 weitergeführt – folgendermaßen zu verstehen (vgl. Meinhardt, 2014, S.138):
„Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuie- rende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Wer- ken wesentlich bestimmen.“ (Bürger, 1974, S. 29)
Bürger beschreibt so in seinem vielfach zitierten Werk das zu kriti- sierende Objekt, also die Institution Kunst, in seiner gesamten Struktur. Die avantgardistische Kritik des Ästhetizismus ist für Bürger im Sinne einer Ne- gation der Kunstautonomie zu betrachten. Es ging den Avantgarden in den 1960er-Jahren darum, die bürgerliche Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben, wobei sich durch diese Trennung eine neue Lebenspraxis eta- blieren sollte. Dieses Projekt ist jedoch bekanntermaßen gescheitert, und so ist der Protest gegen die „Institution Kunst als Kunst rezipierbar geworden“, nicht aber als Durchbruch der Kunst in das politische Leben (Bürger, zit. n. Rebentisch, 2013, S. 169). Die Philosophin Juliane Rebentisch formuliert in Theorien zur Geg enwartskunst zur Einführung (2013) diese Problematik als omnipräsent und immer noch aktuell. Die großen Kunstinstitutionen und Biennalen überbieten sich mit politischen Ansprüchen, so Rebentisch, dabei gelinge es jedoch nie, die Differenz von Kunst und Leben aufzuheben. Das Ausgestellte werde im Kunstkontext betrachtet und reflektiert, habe jedoch darüber hinaus keine nachhaltige Wirkung auf die Rezipient_innen (vgl. Rebentisch, 2013, S. 169). Weiter argumentiert sie, dass der Ausdruck von politischem Engage- ment heute leider „das erfolgreichste Schmiermittel zur Aufrechterhaltung des Betriebs selbst zu sein scheint“ und „eine ungute Allianz mit der neo- liberalen Impact-Forderung eingegangen ist, die von den Geisteswissen- schaften und den Künsten verlangt, einen unmittelbaren Nachweis ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit zu erbringen.“ (Rebentisch, 2013, S. 169 f.) Sie beschreibt die meisten Institutionen als neoliberal strukturiert und meint, dass es gerade aufgrund dieser Umstände erneut wichtig sei, „mit und gegen Bourdieu – nach dem ethisch-politischen Existenzrecht der Kunst
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Institutionskritik und White Cube
Abbildung 2: Michael Asher (1974): Intervention in der Claire Copley Gallery, Los Angeles.
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Sophia Hatwagner
VAN Art Space
als Kunst und also auch nach ihrer Institution zu fragen.“ (Rebentisch, 2013, S. 170) Die Befragung der Institution mittels der Methode der Kritik ist dabei nicht als eine „Beurteilung“ oder „Verurteilung“ zu verstehen, sondern mehr als (wie in der griechischen Bedeutung des Wortes) „Unterscheidung“ (vgl. Meinhardt, 2014, S. 138). So handelt es sich dieser aktuellen Definition zufol- ge bei dem Begriff Institutionskritik in der Kunst um künstlerische Arbeiten, die sich selbstreflexiv mit der Institution Kunst auseinandersetzen und die- se – als ein Feld sozialer, politischer und ökonomischer Interessen – dekons- truieren. Dabei geht es genauer, so Johannes Meinhardt, um „die Analyse der historischen und gesellschaftliche-politischen Institutionen der Kunst und deren Wirkung oder Rückwirkung auf die künstlerische Produktion und besonders auf die Wahrnehmung von künstlerischen Arbeiten.“ (Meinhardt, 2014, S. 139) Im Zentrum der ersten Welle der Institutionskritik – ab den späten 1960er-Jahren bis in die 1970er-Jahre – stand vorrangig die Kritik des Künst- ler_innensubjekts an Kunstinstitutionen im Allgemeinen. Gegenstand der Kritik waren somit vorrangig Institutionen wie Museen, Galerien und Samm- lungen, die es mittels künstlerischer Praxis zu kritisieren galt. Künstler wie Marcel Broodthaers, Daniel Buren oder Hans Haacke sind namhafte Vertre- ter der Institutional Critique , sie alle hatten die Intention, den Ausstellungs- raum selbst auszustellen und somit seine Gesetze sichtbar und nachvoll- ziehbar zu machen. Als bekanntes Beispiel möchte ich hier Michael Ashers Intervention im Galerieraum erwähnen. Er entfernte die Wände der Claire Copley Gallery in Los Angeles, die den Ausstellungsraum von den Büroräumen trennte und markierte durch diese einfache Geste das ökonomische Gerüst des ver- meintlich neutralen, „reinen“ Ausstellungsraumes. In den 1980er-Jahren fand die zweite Welle der Institutionskritik statt, sie verlagerte sich vom zu kritisierenden Objekt des Museums und der Ga- lerie hin zum Subjekt der Künstler_innen bzw. ergänzte den Begriff der In- stitution um den des Subjekts. So wurde der Rahmen für Institutionskritik nochmals erweitert und umfasst zusätzlich zu den davor umstrittenen insti- tutionellen Räumen auch das (kritische) Künstler_innensubjekt sowie andere, nicht im Kunstraum befindliche Räume sowie Praktiken und Methoden. Bekannte Vertreter_innen der Institutionskritik in den 1980er-Jahren waren die Künstler_innen Louise Lawler, Allan Mc Collum, Martha Rosler und die frühe Andrea Fraser. Letztere gilt, nach Isabelle Graw, auch als Be- gründerin des Begriffes Institutionskritik, welchen Andrea Fraser erstmals in einem Aufsatz über die Künstlerin Louise Lawler erwähnte. Simon Sheikh beschreibt in seinem Text „Notitzen zur Institutionskri- tik“, dass beide Wellen heute bereits selbst Teil der Institution Kunst gewor- den sind – in Form von gegenwärtiger Kunstgeschichtsschreibung, künstle- rischer Ausbildung, sowie in der „entmaterialisierten und post-konzeptuellen Kunstpraxis der Gegenwartskunst“ (Sheikh, 2006). Wurden die Kunsträume der 1960er- bis 1980er-Jahre von instituti- onskritischen Künstler_innen als problematisch dargestellt, so sind sich die institutionskritischen Ansätze der Gegenwart ihrer Position (im Sinne von In- stitutionalisierungsmechanismen) bewusst und sehen den „Gegner“ nicht in der Institution an sich, sondern machen ihn in den „Künstler_innensubjekten“
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Institutionskritik und White Cube
selbst aus. Andrea Fraser schreibt dazu 2005 im Essay „From the Critique of Institutions and the Institutions of Critique“ im Artforum :
„It’s not a question of being against the insti- tution: We are the institution. It’s a question of what kind of institution we are, what kind of values we institutionalize, what forms of practice we reward, and what kinds of rewards we aspire to. Because the institution of art is internalized, embodied, and performed by individuals, these are the questions that institutional critique demands we ask, above all, of ourselves.“ (Fraser, 2005)
Es geht Fraser also darum, kritische Institutionen zu schaffen, die durch Selbstreflexion und Selbstbefragung etabliert werden können. Diese bezeichnet sie als „Institutionen der Kritik“. Sie sind nach Fraser auch nicht als autonom von der Welt außerhalb des Kunstfeldes zu betrachten, sondern stehen mit dieser im Dialog – genau wie sie Künstler_innen als mit der Insti- tution in Dialog stehend begreift und nicht außerhalb positioniert (vgl. ebd.). Damit ist der politische Aspekt, welcher der Institutionskritik innewohnt, an- gesprochen. Im Sinne einer Selbstkritik und einer Betrachtung der Umstän- de, unter welchen Kunst produziert wird, aber auch in dem Sinne, ob sys- temkritische Kunst innerhalb des Systems sichtbar gemacht und realisiert werden kann. Im Fokus steht ab den 1980er-Jahren die Forderung und das Be- wusstsein von institutionskritischen Künstler_innen, eigene Abhängigkeiten und Verstrickungen mit Institutionen – einerseits im Sinne von Galerien und Museen, andererseits Institutionen in Form von Mechanismen und Strate- gien, des Ein- und Ausschlusses – zu beleuchten, daher möchte ich mit Si- mon Sheikhs Essay „Notizen zur Institutionskritik“ weiter argumentieren:
„Was heißt es, wenn die Praxis der Institutions- kritik und -analyse sich von den Künstler-innen auf Kurator_innen und Kritiker_innen verschoben hat und wenn die Institution von Künstler_innen und Kurator_innen gleichermaßen internalisiert wurde? [...] dies würde die totale Kooptierung der Institutionskritik durch die Institutionen bedeu- ten [...] und so die Institutionskritik als kritische Methode völlig obsolet machen.“ (Sheikh, 2006)
Laut Sheikh solle Institutionskritik nicht primär von den „Intentionali- täten und Identitäten von Subjekten“, sondern von den Politiken der Ein- schreibung in Institutionen genauer Kenntnis nehmen. Daher plädiert Sheikh dafür, nicht die historischen Wellen der Institutionskritik zu betrachten und diese nicht als historische Periode oder als Kunstrichtung zu begreifen, son- dern die Momente der Institutionalisierung unter die Lupe zu nehmen und Institutionskritik als „analytisches Werkzeug“ zu verwenden (vgl. ebd.). Sheikh betont, diese Methode „räumlicher und politischer Kritik“ solle nicht nur auf den Kunstbereich angewandt werden, sondern sich auf jede Form
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von disziplinären Räumen und Institutionen im Allgemeinen beziehen. Zu- sammengefasst würde Sheikh eine gegenwärtige Kritik der Institutionen nur dort verorten, wo auf den Akt der Institutionalisierung an sich eingegangen wird.
White Cube – Geschichte und Bedeutung
3.2
Der White Cube erfuhr in Hinblick auf die zuvor beschriebene Institutions- kritik in den 1970er-Jahren eine gesteigerte Aufmerksamkeit. Die politischen Ereignisse 1968 forderten auch von Künstler_innen eine Reflexion gegen- über ihren Produktionsbedingungen und Ausstellungspraxen. Die scheinbar untrennbare Verbindung zwischen Kunst und Galerie wurde genauso hin- terfragt wie jene zwischen Kunst und Museum. Der Versuch diesen Status quo aufzulösen mündete in zwei wesentlichen Strategien, mit der Problema- tik umzugehen: Einerseits mit der Abwendung vom Museum, in Form von Kunst im öffentlichen Raum, Aktionskunst, partizipative Ansätze, Fluxus etc., andererseits wurden die Rahmenbedingungen, unter welchen Kunst produ- ziert, präsentiert, rezipiert und gehandelt wird, zum Thema der künstleri- schen Arbeiten. Beispielhaft wären hierfür die Kontextkunst oder die oben beschriebene institutionskritische Kunst zu nennen (vgl. Kravagna, 2014, S. 349). Die räumlichen Präsentationsbedingungen des Ausstellungsrau- mes wurden dekonstruiert, wobei der irisch-amerikanische Konzeptkünst- ler Brian O’Doherty als der Namensgeber für den typischen Kunstraum der Moderne, den White Cube, gilt. In vielerlei Hinsicht hat O’Doherty in drei Artikeln – ursprünglich erschienen diese im Artforum 1976 – den Zeitgeist bezüglich einer Kritik des vermeintlich neutralen, weißen Ausstellungsrau- mes auf den Punkt gebracht. So beschreibt auch Simon Sheikh in seinem vielfach zitierten Essay im e-flux Journal : „The gallery space is not a neutral container, but a historical construct. Furthermore, it is an aesthetic object in and of itself.“ (Sheikh, 2009) In vielerlei Hinsicht ist O’Dohertys Standpunkt so einfach wie radikal: Der Galerieraum ist kein neutraler Behälter, sondern ein historisches Konst- rukt, an dem sich Künstler_innen bis heute abarbeiten. Darüber hinaus ist er ein ästhetisches Objekt an und für sich. Die „ideale“ Form des White Cube ist untrennbar mit den Kunstwerken verbunden, die in ihm gezeigt werden. Der Kontext tritt dabei ins Zentrum der Auseinandersetzung und wird zum Inhalt. Somit wirkt der White Cube selbst transformierend auf die Kunst und wird zusätzlich veränderbar, indem er den Inhalt (die Kunstwerke), nicht mehr in einen Kontext stellt, sondern den Kontext (den Kunstraum) selbst zum Inhalt macht (vgl. Brüderlin, in O’Doherty, 1996, S. 146). Weiter können die Werke im White Cube nur durch die scheinbare Neutralität außerhalb des täglichen Lebens und der Politik als in sich ge- schlossen erscheinen; nur durch die Befreiung von der historischen Zeit können sie ihre Aura der Zeitlosigkeit erlangen (vgl. Sheikh, 2009).
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Institutionskritik und White Cube
O’Doherty erinnert uns anknüpfend daran, dass Galerien Geschäfte sind. Dies wurde im Herbst 2020 deutlich, als während der Corona-Krise Galerien im Gegensatz zu unabhängigen Kunsträumen von ersten Öffnungs- schritten nach dem Lockdown profitieren konnten. Nach O’Doherty sind sie Orte für die Produktion von Mehrwert, nicht von Gebrauchswert – „[...] and as such, the modern gallery employs the formular of the white cube for an architectonics of transcendence in which the specificities of time and of pla- ce are replaced by the eternal.“ (Sheikh, 2009) Sheikh definiert den White Cube (nach O’Doherty) also als einen na- hezu sakralen Raum, der (trotz seines modernen Designs) einem antiken Grabmal ähnelt, das von der Zeit unberührt ist und unendliche Reichtümer enthält. O’Doherty nutzt hierbei diese Analogie von Grabmal und Schatz- kammer, um zu beleuchten, wie der White Cube konstruiert wurde, um den Kunstwerken eine zeitlose Qualität (und damit einen bleibenden Wert) zu verleihen, sowohl im wirtschaftlichen als auch im politischen Sinne. Er ist damit sowohl ein Raum für die Unsterblichkeit der kulturellen Werte einer bestimmten Klasse oder Kaste als auch ein Schauplatz für Objekte, die eine gute wirtschaftliche Investition für mögliche Käufer darstellten. Mit anderen Worten: Der White Cube etabliert eine entscheidende Dichotomie zwischen dem, was draußen bleiben soll (das Soziale und das Politische) und dem, was drinnen ist (der bleibende und finanzielle Wert der Kunst; vgl. Sheikh, 2009). Der White Cube ist als ein kontextfreier Ort konzipiert, an dem Zeit und sozialer Raum von der Erfahrung der Kunstwerke ausgeschlossen sein sollen. Wenn der Galerieraum laut O’Doherty mit Ideologie gesättigt ist und durch künstlerische Praktiken räumlich und politisch analysiert werden kann (vgl. viertes Kapitel von O’Dohertys „Die Galerie als Gestus“), dann könne diese Methode auch auf andere Räume und Nicht-Räume übertragen wer- den, meint Sheikh:
„This can lead to a comparative analysis of space: an analysis of territories, states, insti- tutions, and their contingent mechanisms of inclusion and exclusion, representation and de-presentation – an analysis that not only de- termines what is shown and what is not shown, but also what must be eradicated in order for one spatial formation to take precedence over another.“ (Sheikh, 2009)
Mein Projekt VAN Art Space, welches im folgenden Kapitel vorge- stellt wird, könnte als ein Ansatz in Hinblick auf Simon Sheikhs Vorschlag betrachtet werden. Während das Projekt selbst eine vergleichende Analyse des Raums anstellt, konkret, indem es als künstlerisch-kuratorisches Projekt Fragen der Institution des White Cube und seine kontingenten Mechanismen der Inklusion und Exklusion thematisiert, spielt der White Cube im Koffer- raum eines Familyvans mit der zuvor erwähnten Dichotomie zwischen dem außerhalb des Kunstkontexts Stehenden (das Soziale und das Politische) und dem Zugang zur Galerie (der bleibende und finanzielle Wert der Kunst).
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VAN Art Space
4 VAN – Ausstellungsprojekt
Abbildung 3A: Hatwagner, Sophia (2012): Intervention „showroom“, Kulturverein Margaretenstraße, Wien.
Abbildung 3B: Hatwagner, Sophia (2012): Intervention „showroom“, Kulturverein Margaretenstraße, Wien.
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Artist Statement und Vorgeschichte des VAN-Projekts
4.1
Meine künstlerische Arbeitsweise hat sich schon immer sehr stark mit den Betrachter_innen auseinandergesetzt. Dabei ging es mir stets darum, die räumliche Distanz zwischen Betrachter_innen und Kunstwerk aufzulösen. Zunehmend habe ich mich mit dem Medium Installation beschäftigt, weil diese raumbezogene, künstlerische Arbeitsweise sich sehr explizit auf die Betrachter_innen und deren Umgebung bezieht und somit den Kontext der Entstehung von Kunst selbst thematisiert (vgl. Stahl, 2014, S. 134). „Was unter dem Begriff der Installation entsteht, sind weniger Werke denn Modelle ihrer Mög- lichkeit, weniger Beispiele einer neuen Gattung denn immer neue Gattungen.“ (Rebentisch, 2003, S.15) Mit dieser Aussage legitimiert Juliane Rebentisch in ihrer Ästhetik der Installation (2003) einen für die installative Kunst grundlegenden Fak- tor, das Unbestimmbare. Hierbei präsentiert sich installative Kunst meist genreübergreifend und überschreitet häufig die übliche Definition von Kunst. Nach Rebentisch hinterfragen Installationen grundsätzlich die ästhetischen Erwartungen, im Sinn einer Entscheidung, was noch Kunst ist und was nicht. Dadurch widersetzen Installationen sich grundsätzlich einer Idee von ästhe- tischer Werkautonomie (vgl. Rebentisch, 2003, S. 103). Rebentisch verdeut- licht, dass der Raum der Installation politische Bedeutung hat:
„Ortsspezifische Installationskunst zielt auf die thematische Verschränkung des buchstäblichen und des gesellschaftlichen Ortes. Sie reflektiert ihre institutionellen, sozialen, wirtschaftlichen, politischen und/oder historischen Rahmenbe- dingungen, indem sie formal in architektonische und landschaftliche Gegebenheiten interveniert.“ (ebd., S. 233)
Durch ihre Ortsspezifik, so folgert sie, wende sich besonders die Ins- tallation gegen die Vorstellung von der Autonomie des Kunstwerks.
Mein künstlerisches Tätigsein hat sich in den letzten zehn Jahren zunehmend vom Standpunkt der Betrachter_innen zum Ausstellungsraum, zum öffentlichen Raum, zum sozialen Umfeld und zu den Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kunst im Allgemeinen bewegt. Dabei habe ich den Ausstellungsraum jedoch nie gänzlich verlassen. Je nachdem, in wel- chem Kontext die Arbeit angesiedelt ist, entsteht eine andere Installation, die – wie in meinen letzten künstlerischen Arbeiten sichtbar – zunehmend auch eine Art eigenen Raum bildet.
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VAN – Ausstellungsprojekt
Abbildung 4A: Hatwagner, Sophia (2017): Installation „meditation on form – laboratory“, Die Schöne, Wien.
Abbildung 4B: Hatwagner, Sophia (2017): Installation „meditation on form – laboratory“, Die Schöne, Wien.
Abbildung 5A: Hatwagner, Sophia (2021): Installation „no problem“, VBKÖ, Wien.
Abbildung 5B: Hatwagner, Sophia (2021): Installation „no problem“, VBKÖ, Wien.
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