SH KERN RZ 2

Sichtbarkeit, Prekarität und Subversivität in der Kunst in Zeiten von Covid-19

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Die Corona-Krise verschärft einerseits bereits bestehende soziale und öko- nomische Ungleichheiten – was nochmals die strukturelle Benachteiligung von Frauen, sichtbarer macht – andererseits zeichnen sich im Kunst- und Kultursektor zunehmend ökonomische Differenzen und Unsicherheiten ab, auch in Bezug auf die Produktionsbedingungen vieler Künstler_innen. Die Kunstkritikerin Isabelle Graw schreibt, der Kunstmarkt entwickle sich zu einer „exklusiveren, intransparenten Zone“ (Graw, 2020), die zuneh- mend nur privilegierten Sammler_innen, Auktionshäusern und anderen Insti- tutionen der obersten Ränge Zutritt erlaubt, indem seit der Corona-Krise für exklusive Kreise immer mehr private sales und private viewings stattfinden. Für die weniger privilegierten Künstler_innen sind jedoch Ausstellungstermi- ne, Vertriebskanäle wie Galerien und Museen, aber auch soziale Praktiken, etwa in Form von Ausstellungseröffnungen, weggefallen. Vor allem diese sozialen Praktiken des Netzwerkens, durch welche ein für die Kunstproduk- tion essenzieller, symbolischer Wert geschaffen wird, seien durch Veranstal- tungsverbote im Rahmen der Corona-Maßnahmen nicht mehr möglich, so Graw (vgl. ebd.). Laut Graw ist der Wert der Kunst kein inhärenter, denn die Ware Kunst muss durch soziale Rituale wie Eröffnungen und Dinnerpartys immer wieder situativ neu ausgehandelt werden. Da diese im Moment durch die Masken- pflicht erschwert oder durch „Lockdowns“ komplett untersagt werden, ste- he der Wert der Kunst heute auf unsicherem Terrain (vgl. ebd.). Der verheißungsvolle Ausweg vieler Galerist_innen und Kunstprodu- zierenden aus dieser Krise besteht darin, ihre Kunst im Internet zu zeigen und Ausstellungen in Form von online viewing rooms sichtbar zu machen. Dies lasse die Wahrnehmung jedoch verflachen und reduziere die symboli- sche Bedeutung und damit auch den Symbolwert von Kunst, so Graw (vgl. ebd.). Was sich aus diesen Überlegungen für all jene Künstler_innen ergibt, die nicht an der Spitze stehen, ist schlicht auch die Frage nach dem Wert der Kunst. Sie betrifft vor allem Kunstschaffende, die auch das symbolischen Kapital für wertgenerierend halten. Welche Eigenschaften brauchen Künstler_innen, um erfolgreich zu sein und wie wird dieser Erfolg gemessen? Wie ist es möglich, sichtbar zu sein und gleichzeitig die Verwertungslogik eines neoliberalen Systems zu unterlaufen? Ansätze dazu liefert der Künstler und Aktivist Gregory Sholette in seinem Buch Dark Matter (2010), in welchem er problematische Funktio- nen von Kunstpraktiken in den Prozessen der neoliberalen Aneignung unter- sucht. Sholette bezeichnet den großen Teil der künstlerisch tätigen Akteure – auf welche sich die in der Minderheit befindenden Entscheidungsträger im Kunstfeld und die sogenannten Vertreter der high art stützen – als „dunkle Materie“ (Sholette, 2010, S. 1 ff.). Als sehr anschauliche Metapher dient ihm hier das Universum, wobei die dunkle Materie 96 Prozent des Kosmos ausmacht, diesen jedoch nur als

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Prekär arbeiten – Prekarität, Neoliberalismus, Familie

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