beyond - Internationale Impulse für die Jugendarbeit 01|24

IM FOKUS – Fach- und Jugendaustausch mit der Türkei

INTERVIEW

Selbst unter Druck überlebt die türkische Zivilgesellschaft Einblicke von Laden Yurttagüler Die Soziologin Laden Yurttagüler forscht seit Jahren zur türkischen Zivilgesellschaft und zur Wirkung des Jugendaustauschs auf junge Menschen. Welche Spielräume hat die Zivilgesellschaft und welche Auswirkungen haben die Präsidentschafts- und Kommunalwahlen? Die Redaktion von beyond hat nachgefragt.

IJAB: Frau Yurttagüler, wie steht es um die türkische Zivilgesellschaft?

Während einige derjenigen, die sogenannte liberale Themen bearbeitet haben, also Menschenrechte, Frau- enrechte oder LGBTQ, sich zurückgezogen haben, bean- spruchen nun andere, dienstleistungsorientierte Orga- nisationen das Vakuum, das sie hinterlassen haben und füllen es mit regierungsfreundlichen Werten. Gerade für Jugendorganisationen sind die politische Atmosphä- re und die bürokratische Kontrolle von Organisationen ein Problem. Seit drei bis vier Jahren haben sie auch zunehmende wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Wirt- schaftskrise führt zu weniger öffentlicher und privater Förderung und individuellen Spenden. Dazu kommen Probleme mit dem Rechtsrahmen zivilgesellschaftlicher Organisationen. Das Innenministerium kann die Buch- haltung prüfen, wann immer es will. Das ist nicht gerade angenehm und zudem aufwändig. Eine zivilgesellschaft- liche Organisation muss außerdem ein physisches Büro vorweisen und es auch bezahlen können. Das ist keine direkte Repression, aber es hat Auswirkungen. Wenn beispielsweise eine Gruppe von 20 Leuten einen Förder- antrag stellen möchte, dann muss sie sich als Organisa- tion registrieren lassen und einen physikalischen Raum als Standort angeben. Im Dezember 2020 hat ein Gesetz zur Terrorismusbekämpfung das türkische Parlament

Laden Yurttagüler: Das ist nicht mit einem Satz zu be- antworten, denn die türkische Zivilgesellschaft ist ein vielfältiges und uneinheitliches Feld. Ich habe in den letzten Jahren viel zu diesem Thema gearbeitet und ge- forscht. In der letzten Dekade sind meine Kolleg*innen und ich immer davon ausgegangen, dass die Zivilge- sellschaft aufgrund des politischen und ökonomischen Umfelds schrumpfen würde. Das hat sich als falsch er- wiesen. Tatsächlich wächst die Anzahl zivilgesellschaft- licher Organisationen und auch ihre Angebote nehmen zu. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einem gibt es zunehmend mehr regierungsnahe Organisationen, für die sich viele Menschen ehrenamtlich engagieren. Sie beschäftigen sich nicht mit Themen wie Menschen- und Bürgerrechte, sondern mit Wohltätigkeit oder Kultur. Ein weiterer Grund liegt in der Flüchtlingskrise. Die Anzahl der Organisationen, die sich für Geflüchtete engagieren, hat sich verdoppelt, wenn nicht sogar verdreifacht.

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