Wolfgang Schröer
Impulsbeitrag
Die inter- und transnationalen Verflechtungen der Kinder- und Jugendhilfe werden zu wenig wahrgenommen
Warum versteht die Kinder- und Jugendhilfe in Deutsch- land sich nicht inter- und transnational(er)? Diese Frage ist so pauschal sicherlich nicht korrekt gestellt. Doch warum steht sie trotzdem am Anfang dieses Impulses? Es soll der Eindruck thematisiert werden, dass in Diskus- sionen um die Kinder- und Jugendhilfe mit dem Fokus auf internationale Bezüge schnell von einem Desiderat gesprochen und dann folgerichtig eine weitere Internati- onalisierung gefordert wird. Es wird somit häufig davon ausgegangen, dass es in ers - ter Linie darum gehe, durch einen weiteren internatio- nalen Austausch die nationale Perspektive aufzubrechen und neue Reflexionshorizonte zu eröffnen. Keineswegs soll hier argumentiert werden, dass nicht ein gestei- gerter internationaler Austausch in unterschiedlichen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe sehr gut wäre und auch die wissenschaftliche Sozialpädagogik könnte sich – dies ist unbenommen – stärker in internationalen For- schungszusammenhängen zur Kinder- und Jugendhilfe engagieren. Doch dieser Bedarf an Internationalisierung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Kinder- und Jugendhilfe, auch wie sie heute ist, vieles Inter- und Transnationales steckt. Das bisherige Bild der Inter- nationalisierung ist stark durch die Jugendaustausch- programme geprägt, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert die internationale Jugend- arbeit in Europa zu einem festen Bestandteil der euro- päischen Verständigungs- und Friedensarbeit haben werden lassen. Hier ging es um eine zwingend notwen- dige Öffnung und Begegnungen, die freilich auch heute mehr als aktuell sind.
Doch dieses Bild ist insgesamt zu eng. Es ist zu eindi- mensional und war es vielleicht immer schon. „Beyond“ ist dieses Heft überschrieben. Übersetzt heißt dies: „Darüber hinaus“ werden die inter- und transnationalen Verflechtungen in der Entwicklung der unterschiedli - chen Felder der Kinder- und Jugendhilfe zu wenig wahr- genommen. Es ist zudem umgekehrt zu fragen, warum die historischen und aktuellen Erzählungen zur Kinder- und Jugendhilfe mitunter national geschlossen werden und diese Narrative dann einige überzeugen? Stefan Köngeter (2012) und Anja Schüler (2024) haben beispielsweise in unterschiedlichen Untersuchungen die transnationale Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe in ihren Anfängen herausgearbeitet. Sie verweisen – wenn man so will – u. a. auf den internationalen Fachkräfteaus - tausch zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wie Konzep- te transnational über den Atlantik übersetzt wurden. So sind in der Jugendwohlfahrtsarbeit engagierte Frauen aus der Frauenbewegung – ein bekanntes Beispiel ist Alix Westerkamp – nach Chicago gereist, um sich dort in den Settlements darüber auszutauschen, wie junge Menschen und Familien, die aus unterschiedlichen Län- dern eingereist sind, unterstützt werden können. Kön- geter und Schüler belegen, dass Kinder- und Jugendhilfe sich im 20. Jahrhundert in einem transnationalen Über- setzungsprozess von Ideen, Konzepten und Austausch entwickelt hat. Dies bezog sich übrigens auch auf die Jugendarbeit und, wie Anja Schüler (2024) zeigt, eben- falls auf andere Felder wie beispielsweise die Jugendhilfe im Strafverfahren, wie es heute genannt wird.
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