Mit ihrem Engagement in der Wrestling Szene hatte Hana Kimura es offenbar geschafft, eine Gemeinschaft zu finden, in der sie als Zugehörig wahrgenommen wurde. Zumindest in dem Bereich wurde ihr die Freiheit gelassen, sich ihre sozialen Kontakte, ihre Art zu Leben auszusuchen und über ihre Zukunft zu entscheiden. Die höhere Bekanntheit durch ihre Teilnahme an dem Reality Format „Terrace House“ 13 brachte sie zurück in die Mehrheitsgesellschaft, und ihre Art des Auftretens und ihre Ansichten stießen hier auf Irritationen, welche wiederum Hassbotschaften, Mobbing und Diffamierungen insbesondere in den Sozialen Netzwerken zur Folge hatten. Hana Kimura wurde wieder als nicht-japanisch klassifiziert, ihre Persönlichkeit wurde kritisiert und ihr wurde vielfach und vielfältig der Tod gewünscht. 14 Stigma Erving Goffmans Stigma-Theorie, die in seinem Werk „Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity“ (1963) vorgestellt wird, untersucht die soziale Konstruktion und die Auswirkungen von Stigmatisierung auf das Individuum. Goffman definiert Stigma als ein Attribut, das eine Person in den Augen der Gesellschaft diskreditiert und sie von anderen als „abnormal“ oder „minderwertig“ erscheinen lässt. Dieses Attribut kann physisch, charakterlich oder sozi- aler Natur sein und führt dazu, dass die betroffene Person in ihrer sozialen Identität herabgesetzt wird. Goffman unterscheidet drei Hauptarten von Stigmata: körperliche Deformationen (z. B. Behinderungen), individuelle Charakterfehler (z. B. psychische Erkrankungen, Sucht) und „tribale“ Stigmata, die auf Zugehörigkeiten zu bestimmten ethnischen, nationalen oder religiösen Gruppen beruhen. Unabhängig vom Typus bewirken diese Stigmata eine Kluft zwischen der „normalen“ und der stigmatisierten Person, wobei letztere häufig soziale Ablehnung, Diskriminierung oder Vorurteile erlebt. Ein zentraler Aspekt von Goffmans Theorie ist das Konzept der „beschädigten Identität“ (spoiled identity). Stigmati- sierte Individuen werden in ihrer sozialen Interaktion ständig daran erinnert, dass sie in den Augen der Gesellschaft minderwertig sind. Um mit der Stigmatisierung umzugehen, entwickeln sie verschiedene Strategien des Identitätsma- nagements. Dazu gehören das Verbergen des Stigmas, wenn möglich, oder das „Passing“, bei dem die Person versucht, als „normal“ wahrgenommen zu werden. Wenn das Stigma jedoch nicht verborgen werden kann, bleibt oft nur die Möglichkeit der Anpassung oder der offenen Konfrontation mit der eigenen Stigmatisierung. Goffman beschreibt auch die Rolle der „Normals“, also der nicht-stigmatisierten Personen, die unbewusst oder be- wusst zur Aufrechterhaltung von Stigmata beitragen, indem sie die Differenzierung zwischen „normal“ und „anders“ unterstützen. Er zeigt, wie diese sozialen Dynamiken zu einer systematischen Marginalisierung der stigmatisierten Gruppe führen und wie die betroffenen Personen darauf reagieren. Zusammenfassend zeigt Goffmans Stigma-Theorie auf, wie gesellschaftliche Normen und Erwartungen darüber be- stimmen, was als „normal“ gilt und wie Abweichungen von dieser Norm die Identität und das Selbstwertgefühl des Individuums negativ beeinflussen. Das Werk liefert wichtige Einsichten in die Mechanismen sozialer Ausgrenzung und die psychologischen Folgen von Stigmatisierung, die in vielen Bereichen der Soziologie, Psychologie und Sozialarbeit bis heute relevant sind. Hana Kimura scheint ihr Stigma – nicht ganz japanisch, zu laut, zu viel, zu extrovertiert, zu burschikos – angenommen und es positiv gewendet zu haben, indem sie einen Ort und ein Umfeld gefunden hat, dass sie nicht nur so angenom- men hat wie sie war, sondern in dem sie sogar dafür belohnt wurde so zu sein, wie sie war. Der massive Kontakt über ————————————— 13 Vergleichbar mit dem deutschen „Big Brother“-Format, wenn auch mit einem besonderen Blick auf die Beziehung der jeweiligen Teilneh- menden untereinander. 14 Vgl.: https://board.wrestling-infos.de/threads/hana-kimura-im-alter-von-22-jahren-verstorben.52985/
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