Politische Dimension Internationaler Jugendarbeit

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Politische Dimensionen erlebbar machen

Tabuverletzungen und bewusste Grenzüberschreitungen in internationalen Begegnungen und interkulturellen Lernprozessen

Z u den grundlegenden Prinzipien und zum Selbstverständnis der Interna- tionalen Jugendarbeit gehören der re- spektvolle und wertschätzende Umgang der Partner und der Teilnehmenden untereinander. Dieser Umgang hat im Rahmen von internationalen Jugendbe- gegnungen nicht nur eine individuelle und gruppenbezogene Ebene, sondern ist zugleich auch Ausdruck eines gleich- berechtigten und solidarischen Mitein- anders. Internationale Begegnungen leisten einen Beitrag zur Erreichung dieses Zieles; sie setzen bei den Teilneh- menden im Grunde aber voraus, dass sie über Grundkompetenzen für einen entsprechenden Umgang miteinander verfügen. Dass eine solche Annahme auch in Maß- nahmen der Internationalen Jugendar- beit nicht unbedingt vorausgesetzt wer- den kann, verdeutlicht das nachfolgende Beispiel. In einer deutsch-polnisch-lu- xemburgischen Jugendbegegnung zum Thema Diskriminierung, Rassismus, Ho- mophobie, Antisemitismus und soziale Exklusion sollten den Teilnehmenden typische Muster diskriminierender Hand- lung, Sprache und Politik bewusst ge- macht und antidiskriminierende Hand- lungskompetenzen vermittelt werden. Unter den Teilnehmenden der deutsch- luxemburgischen Gruppe war ein 15-jäh-

Wissenschaftlicher Leiter des Europäischen Zen- trums für transnationale Jugendpartizipation, Schwerpunkt: internationale Jugendbegegnung, Antidiskriminierungsarbeit, ländlicher Raum, Demokratiepädagogik; Kontakt: teichmueller@participation-transnational.eu

riger homosexueller Schüler, der sich of- fen zu seiner Homosexualität bekannte und hierin auch Unterstützung durch die Klasse und die Schulgemeinschaft fand. Für die polnische Gruppe war dies eben- falls erkennbar, ohne dass dies zunächst zu negativen Reaktionen geführt hatte. Am vorletzten Abend der ersten Begeg- nung geschah dann jedoch ein Vorfall. Im Zuge der Tradition der ‚grünen Nacht‘, bei der Türklinken von anderen Teilneh- menden mit Zahnpasta oder Seife be- schmiert werden, zogen sich drei Schüler bis auf die Unterhose aus, schmierten sich mit Seife ein und konfrontierten den homosexuellen Schüler mit obszö- nen Gesten. Der Betroffene teilte dies unter Tränen und enttäuscht dem Lei- tungsteam mit. Dieser Vorfall ereignete sich im An- schluss an einen ganztägigen Workshop zum Thema Homophobie. Weder die er- hofften und durch die gemeinsamen Ab-

sprachen mit den beteiligten Lehrkräften vorausgesetzten Grundkompetenzen waren bei einigen Teilnehmenden noch bei allen Begleit- und Leitungspersonen vorhanden; auch das Seminar hatte bis zu diesem Zeitpunkt anscheinend keine Einstellungsreflexionen ausgelöst. Das Team der internationalen Begegnung nahm den Vorfall zum Anlass, das Thema Homophobie stärker in den Fokus der Folgebegegnungen zu setzen. Die beschriebene Situation macht deut- lich, dass sich trotz gemeinsamer The- menabsprachen der Teilnehmenden und Verantwortlichen ausgrenzendes, tabu- verletzendes, grenzüberschreitendes und intolerantes Verhalten zeigen kann. Ein solches Verhalten bietet jedoch an- dererseits – unter sensibler Berücksich- tigung der Perspektive der geschädigten Personen – zugleich die Möglichkeit, sich über nationale Tabus und Diskriminie- rungsmuster auseinanderzusetzen.

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