IJAB journal 01/2023

IJAB journal 1|2023

INTERVIEW

„Wir müssen über den russischen Angriffskrieg sprechen“ Junge Menschen in der Ukraine brauchen den internationalen Austausch heute mehr denn je Die Filmemacherin Tetiana Kriukovska ist die Leiterin der NGO „Tolerance in You“, die Kunst nutzt, um mit jungen Menschen über schwierige Themen zu sprechen und dabei Methoden der non- formalen Bildung einsetzt. Sie floh 2022 nach Deutschland, kurz nach der vollflächigen russischen Aggression gegen die Ukraine. Einige Vorstellungen in Deutschland zum Jugendaustausch mit der Ukraine irritieren sie. Im Interview erklärt sie, warum das so ist, und beschreibt einige grundsätzli- che Anforderungen, wie Begegnungen junger Menschen verbessert werden können.

IJAB: Tetiana, es gibt ein ukrainisches Netzwerk von Mediator*innen, das ein Papier mit dem Titel „7 Punkte zu Krieg und Dialog“ veröffentlicht hat. Darin sprechen sie sich unter anderem gegen einen zivilge- sellschaftlichen Austausch zwischen der Ukraine und Russland aus, solange der Krieg andauert. Kannst du das aus deiner Perspektive in Bezug auf den Jugend- austausch kommentieren? Tetiana Kriukovska: Weil es unethisch ist, während einer Aggression das Opfer zu einem Dialog mit dem Aggressor aufzufordern. Jeden Tag werden in der Uk - raine Zivilist*innen von der russischen Armee getötet. Jeder einzelne Mensch in der Ukraine leidet unter der russischen Aggression. Stell dir vor, junge Menschen aus der Ukraine und Russland säßen während eines Jugendaustauschs in einem Raum. Stell dir weiter vor, was die Verwandten oder Freund*innen der russi - schen Teilnehmenden in diesem Moment tun. Viel - leicht bringen sie Menschen in der Ukraine um. Oder sie zahlen Steuern in Russland und finanzieren damit die russische Aggression in der Ukraine. So können sich Jugendliche aus der Ukraine fühlen. Zu verlangen, dass Jugendliche aus der Ukraine und Jugendliche aus Russland miteinander reden, würde bedeuten, den

Aggressor und das Opfer auf dieselbe Stufe zu stellen. Ich habe diese Idee, dass wir miteinander reden müssen, nur in Deutschland gehört. Niemand von unseren ande - ren internationalen Partnern fordert das. Es gibt einige Gründe, warum das in Deutschland so ist, und ich denke, es ist wichtig, darüber nachzudenken. Ein wesentlicher Grund ist die Reflexion in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, die auf dem Motto „Nie wieder Krieg“ basiert. Aber hier fehlt die öffentliche Reflexion über den Imperialismus, der nie wieder hätte entstehen dürfen. In Deutschland will man „nie wieder Krieg“, ohne gleichzeitig auf den russischen Imperialismus zu reagie- ren. Ein weiterer Grund ist: Deutschland scheint eine gro - ße Toleranz gegenüber Russland zu haben, die auf ei - ner Fehlinterpretation der Geschichte beruht, einer historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Russland. Aber es waren nicht nur die russische Armee und Bevölkerung, die durch die deutsche Wehrmacht schreckliche Verluste erlitten, und es war nicht nur Russ - land, das von den Nazis verwüstet wurde. Es waren auch die Ukraine, Belarus, Moldawien, Georgien und ande - re Sowjetrepubliken. Menschen aus allen damaligen

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