IJAB journal 01/2023

IJAB journal 1|2023

es der Wirtschaft überlassen, uns zu erklären, wie man mit Osteuropa umzugehen habe. Die US-amerikanische Osteuropakennerin Anne Applebaum beschreibt diese fatale Fehleinschätzung mit deutlichen Worten. Aus ihrer Sicht ist das über Jahrzehnte verfolgte Konzept komplett gescheitert, der Glaube an die Rationalität autoritä- rer Regime falsch. Diese Länder sähen den Westen als Feind. Eine solche Betrachtung hat auch Konsequenzen für die Planung und Realisierung von Jugendbegegnun - gen mit Diktaturen. Ein zweiter Grund ist banaler, spielt jedoch eine Rolle: Mittel- und Osteuropa wird als beschwerlich wahrge- nommen. Die östlichen Transformationsländer – sieht man von den touristischen Hochburgen und urbanen Zentren ab – sind deutlich sperriger als eine Individu- alreise in den europäischen Westen oder Süden. Auch im Schüler*innen- und Jugendaustausch können wir ein Lied davon singen. Ein dritter Grund ist tiefenpsychologisch. Viele Deutsche und ihre Vorfahren haben bezüglich der Länder östlich der Oder-Neiße-Linie traumatische Erinnerungen. Die Region ist unsere offene Wunde. Deutsche waren dort Täter der Shoah und des nationalsozialistischen Vernich - tungskrieges. Bis heute bleibt eine intergenerativ vererb - te Scham über diese Gräuel. Doch Deutsche waren nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Rund zehn Millionen deutschsprachige Menschen lebten vor dem Zweiten Weltkrieg östlich der Oder-Neiße-Linie und wurden nach dessen Ende vertrieben oder zwangsdeportiert. Große Teile der deutschen Bevölkerung zieht es nicht dorthin zurück. Aus Scham oder um die traumatischen Erlebnis - se der eigenen Geschichte nicht zu reaktivieren. Hinschauen, zuhören, dranbleiben Heute wird deutlich, wohin es führt, wenn man sich mit einer so zentralen Region nicht ausführlich beschäftigt. Wir als deutsche Gesellschaft, in den Schulen und in außerschulischen Lerneinrichtungen, müssen wieder genauer hinschauen: auf die Ukraine, auf den Krieg, auf Osteuropa.

Wir müssen Begegnungen und Austausch verstärken, Netzwerke ausweiten. Vorbilder gibt es. Man denke an das erwähnte deutsch-tschechische Jugendtreffen 1996 in Polička, bei dem junge Menschen zeigten, dass Koope - ration und Austausch möglich sind. Das Treffen gilt als Durchbruch in den festgefahrenen Beziehungen der Nachbarländer und war ein zentraler Baustein in der Beschleunigung des Prozesses, der später zur deutsch- tschechischen Verständigung führte. Nichts hilft besser gegen Populist*innen mit ihren ver - meintlich einfachen Antworten als das eigene Erleben und die in der Begegnung entstehende Empathie für den Anderen. Nirgends lernt man besser, was Ambigu- itätstoleranz, also das Aushalten von Mehrdeutigkeit, bedeutet. Das sind Grundprinzipien der politischen Bil - dung seit dem Beutelsbacher Konsens von 1976 und es sind auch die Grundprinzipien jedes Schüler *innen- und Jugendaustausches. Ein so verstandener Jugendaus - tausch mit Mittel- und Osteuropa ist ein Beitrag zur Frie- dens- und Demokratieförderung und politische Bildung „at its best“! Deshalb, warum nicht 2024 ein mitteleuropäisches Jugendtreffen mit deutschen, baltischen, ukrainischen, polnischen, tschechischen und weiteren Teilnehmenden etwa in Danzig angehen? Wenn 1996 die Präsidenten Tschechiens und Deutschlands, Václav Havel und Roman Herzog, in den kleinen böhmischen Ort Polička reisten, warum treffen sich nicht 2024 der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Bundespräsident Frank-Wal - ter Steinmeier in Danzig?

Eine Langfassung dieses Artikels – inklusive Praxistipps für den Jugendaustausch – finden Sie auf www.ijab.de .

Kontakt Daniel Kraft Leiter der Stabsstelle Kommunikation und Pressesprecher der Bundeszentrale für politische Bildung

Web: www.bpb.de

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