Rheingold

72 –– RHEINGOLD

73 EINE WEINREISE ––

Das Telefon klingelt wieder einmal. Handwerker, Freunde, er muss noch eben eine berühmte Sommelière

nach Mainz fahren und zwischendurch einen Kunden, der ein paar Flaschen Wein kaufen will, bedienen. Die Zeit zer- rinnt, während sie stillzustehen scheint. Bei HaJo Becker ist sie extrem ausge- füllt und wahrscheinlich hat er gar nicht richtig gemerkt, dass aus 1961 plötzlich 2023 geworden ist und er 78 Jahre alt. „Morgen muss ich dringend in den Rheinberg“, berichtet er, „da muss ich das Grün unterpflügen.“ Der Rheinberg ist ein kleiner steiler Hang direkt am Rheinufer – vielleicht der einzige am ganzen Rhein, der nur durch einen Rad- weg vom Wasser getrennt ist und trotz-

Über Spätburgunder müssen wir noch sprechen. „Mein Großvater war der Erste, der Spätburgunder im Rhein- gau gepflanzt hat, und das hat mir im - mer gefallen. Ich hatte einen Weinhänd- ler, der die großen Burgunder importiert hat. Bei manch einer Verkostung hat er ein paar von meinen Weinen dazwi- schengeschmuggelt. Glaubt ihr, das hat jemand gemerkt?“ Wahrscheinlich nur bei der Summe auf der Rechnung. Wir können es uns zum Glück gerade noch verkneifen zu fragen, welche Tonnelerie denn seine Barrique liefert, da erzählt er

GEREIFTER RIESLING

» SO MACHT MAN KEINE WEINE FÜR DEN SCHNELLEN KONSUM, ABER SIE REIFEN EINFACH LÄNGER. «

HaJo Becker

Der Riesling besitzt die Fähigkeit, Weine hervorzu- bringen, die bereits in ihrer Jugend erfreuen und unkompliziert zu genießen sind. Aber die wahre Magie offenbart sich erst, wenn die Säure, Süße und der Alkohol in harmonischer Einheit mitein- ander verschmelzen. In dieser ausgewogenen Ba- lance übertrifft der Riesling viele andere Rebsor- ten. Die Weine entwickeln eine faszinierende Textur, von samtigem Schmelz bis hin zu cremiger Fülle. Die Aromen entfalten sich zu reifen Früch- ten, mitunter auch zu delikaten Trockenfrüchten. Die Farbe wandelt sich von einem strahlenden Gold zu einem tiefen, schimmernden Bernstein. Eine solche Komplexität eröffnet eine vollkom- men neue Geschmackswelt, die es zu erkunden gilt, und ist das Geheimnis des gereiften Rieslings. Sein Potential entfaltet er, wenn er über die Jahre hinweg geduldig heranreift. Es ist ein Schatz, der es verdient, entdeckt zu werden – ein wahrer Ge- nuss für alle Sinne. IN DER WELT DES WEINS STREBEN WIR OFT NACH FRISCHE, JUGENDLICHKEIT UND LEICHTIGKEIT. DOCH ES GIBT EINEN VER- BORGENEN SCHATZ, DER ERST MIT DER ZEIT ZUM VORSCHEIN KOMMT.

dem steil abfällt. „Hier bin ich schon dreimal mit dem Schlepper abgegangen“, lacht er, „zack, lag ich unten auf dem Weg, aber es ist nix passiert.“ Ich denke etwas be- sorgt an den morgigen Tag und das nasse, rutschige Gras auf dem Boden. „Ach ja“, sagt er mitten in meine Gedanken hinein, „wenn ich das jetzt nicht wegmache und es kommt doch nochmal Frost, dann ist hier alles kaputt, weil der Be- wuchs die Kaltluft daran hindert abzufließen.“ Also wird er am nächsten Tag bei Sonnenaufgang auf dem Schlepper sitzen und den steilen Rheinberg runterfahren, wie immer. Wir fahren in den Bilderstock, eine Lage hoch über Walluf, mit einer Aussicht über das Rheingau. „Da vorn ist der Rauenthaler Nonnenberg, da hinten Schloss Johannis- berg“, zeigt er, „da hat man den Begriff Spätlese geprägt.“ Es folgt ein kleiner Sidekick auf die neue Klassifikation nach dem burgundischen Vorbild, wie der VDP sie verwen- det. „Man macht damit doch alles gleich“, meint er, „ich hab zum Beispiel viele Parzellen in den Lagen, die mit jün- geren Rebstöcken bepflanzt sind („jünger“ ist in der Be - ckerschen Klassifikation relativ zu verstehen), warum soll da das Gleiche auf dem Etikett stehen wie auf den Weinen aus alten Parzellen? Und wenn es eine Auslese ist, dann soll auch Auslese draufstehen. Punkt.“ Er erzählt, wie er sich am Elsass orientiert hat, wo auf besonderen Weinen einfach nur „Vieilles Vignes“ steht. In Deutschland war das damals verboten, HaJo hatte sich aber darüber hinwegge- setzt. Ob sich niemand getraut hätte, sich mit ihm, dem Rebellen, anzulegen? „Ach was“, winkt er ab, „ich hab mit der Weinkontrolle ein super Verhältnis. Ich frage und er- zähle denen auch ganz offen, was ich machen will. Man kann doch über alles reden.“ Stimmt, man kann sich kaum vorstellen, dass er mal nicht direkt sagt, was er denkt. „Ich bin seit über 40 Jahren in der Kommunalpolitik. Warum soll ich mich verbiegen?“

schon von selbst: „Drucktank, den hab ich mal in den 70ern in Frankreich gekauft, war damals sehr modern. Komisch, das nutzt heute keiner mehr für die Gärung. Und dann kommen die einfach ins große Holz. Fertig.“ Es ist erstaun- lich, wie wenig Aufhebens er von seinem Weinschaffen macht. Es klingt so, als sei das keine große Kunst, aber viel- leicht ist das nach mehr als 50 Jahrgängen einfach so. Wir unterhalten uns über die Jahrgänge 2021 und 2012. „Die waren irgendwie sehr ähnlich, aber der 12er benötigte Jah- re, bis er sich zeigte, der 21er war sofort da.“ Ich frage nur: „Warum?“ HaJo Becker zuckt mit den Achseln: „Frag mich in 20 Jahren noch mal, vielleicht weiß ich es dann.“

HAJO BECKER AUF DEM RHEINBERG – EINE BESONDERE LAGE, NICHT NUR WEGEN DER AUSSICHT

Im Keller stehen alte GFK-Kunststofftanks, die man nur noch selten sieht. „Die sind super. Es gibt viele Weine bei mir, die ich nur darin mache. Warum soll ich die raus- werfen? Nur weil etwas neu ist oder gerade in Mode?“ Trends scheinen ihn wirklich nicht zu interessieren, seine Art, Weine zu machen, ist einfach zeitlos und trotzdem ver- zichtet er nicht ganz auf Veränderungen und Wandel. Er erzählt, wie er auf den Glasstopfen kam, den er heute aus- schließlich verwendet, wie er dies und jenes ausprobiert hat oder wie er damit begann, die Rebstöcke kürzer zu hal- ten, damit die Blätterwand kräftiger wird. „Meine Wein- berge erkennt man sofort.“ Und das stimmt, die Rebstöcke sind einfach kürzer und stämmiger. Das führe zu Weinen mit mehr Extrakt und reifer Säure. „So macht man keine Weine für den schnellen Konsum, aber sie reifen einfach länger.“ Scheinbar ist das Anhalten der Zeit bezeichnend für HaJo Becker. Ob die Weine nach fünf oder 15 Jahren ge- trunken werden, wen kümmert ’ s. Ob er mit 25 oder 78 auf dem Schlepper durch den Rheinberg fährt, warum sollte das ein Thema sein? Beim Espresso erzählt er uns noch, bevor wir gehen: „Vielleicht bauen wir ja, wenn meine Kel- lerei mal steht, da unten am Rhein auf dem Grundstück ein Altenheim. Das wäre doch was, dann können die alten Leu- te mir ab und an bei der Arbeit im Weinberg helfen. Das hält jung.“ ab

ca. 13 ha Rebfläche

BEST OF RIESLING Seite 87 Veranstaltung

mit Riesling und Spät- burgunder werden in Walluf bewirtschaftet.

Rotwein

Roséwein

Weißwein

Schaumwein

Rosé-Schaumwein

Biowein

NatWine

Limitiert

Stark limitiert

SEPTEMBER 2023

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