beyond 02|2024

Im Fokus: Schutz vor sexualisierter Gewalt in der Internationalen Jugendarbeit

2024 02

INTERNATIONALE IMPULSE FÜR DIE JUGENDARBEIT

IM FOKUS: Schutz vor sexualisierter Gewalt

WEITWINKEL JUGENDENGAGEMENT IN DER UKRAINE

FORSCHUNG JUGENDSTUDIE SÜDOSTEUROPA

EDITORIAL

Liebe Leser*innen, mit einer Auslandserfahrung junger Menschen verbinden wir vor allem positive Wirkungen. Der Blick auf die Welt weitet sich, Vorurteile werden abgebaut, junge Menschen nehmen die Dinge selbst in die Hand und werden ein aktiver Teil der Gesellschaft. Aber leider ist nicht jeder Auslands- aufenthalt eine gute Erfahrung. Internationaler Austausch bringt besondere Rahmenbedingun- gen mit – das erste Mal ohne die Eltern von zu Hause weg, eine fremde Sprache, unbekannte kulturelle und rechtliche Kontexte, der Aufenthalt in einer Gastfamilie oder die gemeinsame Zeit in einer Gruppe während einer Jugendbegegnung. Umstände also, die von Täter*innen gezielt für sexualisierte Gewalt genutzt werden können. Da- gegen könnten Schutz- oder Präventionskonzepte helfen. Jedoch ergab eine Online-Befragung der Universität Kassel für das Verbund- und Transfer- projekt „SchutzJu – Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit & Jugendsozialarbeit“, dass 47 % der befragten Mitarbeitenden der Internationa- len Jugendarbeit in ihrer Organisation über kein Schutzkonzept verfügen und 15 % der Befragten nicht wissen, ob ein solches Konzept vorliegt. Die Gastautor*innen und Interviewpartner*innen, die wir für unser Fokusthema „Internationale Jugendarbeit und sexualisierte Gewalt“ gewin-

auseinanderzusetzen, damit für junge Menschen der Aufenthalt im Ausland eine gute Erfahrung ist und nicht mit einem Trauma endet. Wie sagte eine unserer Interviewpartnerinnen? „Ich schlafe als Geschäftsführerin viel ruhiger, wenn ich weiß, dass das Thema bei uns nicht tabuisiert wird.“ Das Jahresende ist üblicherweise die Zeit für Glückwünsche. Leider lässt uns nicht alles mit Hoffnung ins neue Jahr blicken. Die kommende Bundestagswahl, ein neuer US-Präsident, geringe Fortschritte beim Kampf gegen den Klimawandel, die fortdauernde Aggression Russlands gegen die Ukraine – all dies verunsichert. Aber die Welt steckt nicht nur voller schlechter Nachrichten. Mit unserer neuen Rubrik „Weitwinkel – internationa- le Perspektiven“ wollen wir den Blick auf Entwick- lungen und Ereignisse richten, die unsere Arbeit beeinflussen. In der vorliegenden Ausgabe von beyond nehmen wir Sie mit nach Schweden, zum UN-Zukunftsgipfel und in die Ukraine. Dieses Mo- nitoring internationaler Entwicklungen ist nicht nur wichtig für die Internationale Jugendarbeit, es ermöglicht der gesamten Kinder- und Jugendhilfe eine Blickumkehr, die für unser Arbeitsfeld prä- gend ist, und damit verbunden Impulse für eine allzu oft selbstbezogene nationale Diskurskultur. In unserer Rubrik Forschung reisen wir diesmal von Nord nach Süd und von West nach Ost. Wir erhalten Einblicke in die neue Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Südosteuropa und in partizipative Ansätze bei der Förderung der psy- chischen Gesundheit junger Menschen in Norwe- gen und Simbabwe. Bei so vielen interessanten Inhalten kann ich nun doch noch zu den Glückwünschen zum Jahres- wechsel kommen. Ich wünsche Ihnen besinnliche Feiertage und ein gesundes, erfolgreiches und glückliches 2025.

nen konnten, bestätigen leider die Erkenntnisse der Wissenschaft. IJAB ist seit Ende 2021 Praxispartner im Teilprojekt „SchutzJu“, das sich mit der Prävention sexualisierter Gewalt und der Unterstützung bei der Implemen- tierung partizipativer Schutzkonzepte befasst. Im Rahmen dieses Projekts arbeitet IJAB mit über 40 Partneror- ganisationen zusammen, um beste- hende Schutzkonzepte zu analysieren, weiterzuentwickeln und an die spe- zifischen Anforderungen der Inter - nationalen Jugendarbeit anzupassen. Einige Ergebnisse möchten wir Ihnen in dieser Ausgabe von beyond vor- stellen. Zugleich möchten wir Ihnen Mut machen, sich mit diesem Thema

Ihr Daniel Poli

Daniel Poli, Direktor von IJAB

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Inhalt

Forschung

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IM FOKUS: Schutz vor sexualisierter Gewalt Zwischen Prävention, Teilhabe und interkulturellem Lernen Christoph Bruners Safeguarding mit Leben gefüllt Gregor Christiansmeyer Prävention sexualisierter Gewalt in internationalen Jugendprojekten Kari Morgan Gemeinschaftliches Lernen zum Wohle der Teilnehmenden Anne von Fircks (AJA) und Matthias Lichan (Experiment e. V.) Schulung, Schulung, Schulung! Interview mit Isabella Maier Beteiligung für bessere Wirksamkeit  Interview mit Lena Groh-Trautmann Was sagen die Träger?  Tom Fixemer und Prof. Dr. Elisabeth Tuider Schutzkonzepte gemeinsam gestalten –  Materialien, Tools und Videos für die (Internationale) Jugendarbeit

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„Unabhängig und besorgt“ 

Dr. Elena Avramovska Psychische Gesundheit junger Menschen:  ein stärkenorientierter Ansatz Interview mit Dr. Fungisai Gwanzura Ottemöller Weitwinkel – internationale Perspektiven Jugendkriminalität und Gewaltprävention

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Interview mit Lena Nyberg Zwischen allen Stühlen 

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Selma Cafferty Jugendengagement zu Gesundheit und  Wohlbefinden in der multilateralen Zusammenarbeit: eine Perspektive aus der Ukraine Natali Petala-Weber Forum Internationalen Jugendarbeit Leonie Kaiser TraX 2025 – mit IJAB acht Wochen in die USA Parlamentarischer Abend der 

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Elena Neu Termine

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Januar bis Juni 2025 Impressum 

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IM FOKUS

Schutz vor sexualisierter Gewalt

Es ist das Thema, über das niemand gerne spricht: sexualisierte Gewalt in der Jugendarbeit. Und dennoch wissen wir, dass es sie gibt. Gerade in der Internationalen Jugendarbeit schaffen Rahmenbedingungen – wie Abhängig­ keiten, Sprachbarrieren oder Machtgefälle – Risiken, die Täter*innen ausnutzen können. Schutzkonzepte können helfen, wenn sie als dynamische Prozesse verstanden werden, die nicht nur bekannt sein müssen, sondern gemeinsam mit jungen Menschen entwickelt, reflektiert und weitergeführt werden.

IM FOKUS – Schutz und Prävention

Zwischen Prävention, Teilhabe und interkultu­ rellem Lernen

Christoph Bruners

Schutzkonzepte in der Internationalen Jugendarbeit Die Internationale Jugendarbeit bietet jungen Menschen die Möglichkeit, interkulturelle Begeg­ nungen und wertvolle Lernerfahrungen über Landesgrenzen hinweg zu erleben. Gleichzeitig birgt sie besondere Herausforderungen, insbesondere im Hinblick auf den Schutz vor sexualisierter Gewalt. Angesichts der Vielfalt der Angebote – von Workcamps über Jugendbegegnungen bis hin zu Freiwilligendiensten – ist die Entwicklung wirksamer Schutzkonzepte von zentraler Bedeutung, um ein sicheres Umfeld für alle Teilnehmenden zu gewährleisten.

Breite Fassung der Schutzkonzept­ debatte: Mehr als Prävention sexuali­ sierter Gewalt In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde Jugend - schutz und damit Prävention sexualisierter Gewalt zunehmend als Bestandteil der Qualitätsentwicklung und Bildungsarbeit verstanden. 3 Initiativen beschäf- tigten sich damit, präventive Maßnahmen nachhaltig in Strukturen und Angebote zu verankern. Träger und Organisationen entwickelten praxisnahe Ansätze, um Fachkräfte zu qualifizieren. Auch für die Internationale Jugendarbeit führte dies zur Erstellung von Materialien und Schulungen, die auf die besonderen Anforderun- gen internationaler Begegnungen zugeschnitten waren.

Bis in die späten 1970er Jahre wurde sexualisierte Gewalt in vielen gesellschaftlichen Kontexten tabuisiert. Präven- tive Ansätze in der Jugendarbeit waren oft durch eine kontrollierende Perspektive geprägt, die darauf abziel- te, Risiken zu minimieren, ohne die zugrunde liegenden Dynamiken zu hinterfragen. In den 1980er Jahren führ- ten gesellschaftliche Entwicklungen zu einer veränder- ten Wahrnehmung. 1 Diese Veränderungen schufen ein öffentliches Bewusstsein und förderten systematischere sowie emanzipatorische Ansätze, die Schutz und Teilha- be gleichermaßen in den Mittelpunkt rückten. 2

1 Gemeint ist hier bspw. die feministische Bewegung, die verstärkte öffentliche Debatte um sexualisierte Gewalt und die AIDS-Krise. 2 Vgl. Henningsen, A. & Sielert, U. (Hrsg.). (2023). Praxishandbuch Sexuelle Bildung, Prävention sexualisierter Gewalt und Antidiskriminierungsar- beit: wertvoll, divers, inklusiv. 3 Die gesetzliche Grundlage für Prävention sexualisierter Gewalt wurde erstmals im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) von 1990 geschaffen und mit dem Bundeskinderschutzgesetz 2012 konkretisiert. Letzteres verpflichtete Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe zur Entwicklung systematischer Schutzkonzepte und präventiver Maßnahmen.

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Schutzkonzepte schaffen sichere Räume, in denen Vielfalt gelebt werden kann.

Prävention und Machtstrukturen: Sicherheit in internationalen Begeg­ nungen gestalten Eine wirksame Prävention beginnt mit der Analyse potenzieller Risiken und erfordert klare Verhaltensre- geln, transparente Kommunikation sowie die Sensibi- lisierung und Qualifizierung von ehrenamtlichen und hauptamtlichen Fachkräften. Diese Schritte schaffen den Rahmen für sichere Räume, in denen Vielfalt gelebt werden kann. Prävention erfordert dabei ein tiefes Ver- ständnis für die Dynamiken der Internationalen Jugend- arbeit, einschließlich Machtstrukturen und kultureller Unterschiede. Machtverhältnisse, die zwischen Jugend- lichen und Fachkräften, Ehrenamtlichen und Hauptamt- lichen sowie Partnerorganisationen aus unterschiedli- chen Ländern bestehen, können ungleiche Dynamiken verstärken, aber auch bewusst gestaltet werden, um Schutz und Beteiligung zu fördern. Die internationale Dimension bringt zusätzliche Her- ausforderungen mit sich. Unterschiede in Werten, Nor- men und rechtlichen Rahmenbedingungen erfordern Sensibilität und Flexibilität. Schutzkonzepte müssen daher kulturelle Vielfalt berücksichtigen und gleichzeitig

Trägerübergreifende Kooperationen, wie sie beispiels- weise in der Schulungsmappe „Sex. Sex! Sex?“ dokumen- tiert sind, trugen maßgeblich dazu bei, diese Ansätze in die Praxis zu überführen. 4 Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Schutzkonzep- ten lag der Fokus zunächst auf dem Schutz vor sexu- alisierter Gewalt. Mit der Zeit wurde jedoch erkannt, dass die Diskussion auch Aspekte wie Diskriminierung, psychische Gewalt und strukturelle Benachteiligungen berücksichtigen muss, da diese zentralen Hindernisse für Teilhabe und Gerechtigkeit darstellen. Schutzkon- zepte gelten heute als umfassendes System, das Präven- tion mit der Schaffung gleicher Chancen verbindet und junge Menschen aktiv in die Entwicklung und Umset- zung von Maßnahmen einbindet. 5 Dieser Ansatz steht in engem Zusammenhang mit den Prinzipien der Inter- nationalen Jugendarbeit, die Partizipation und interkul- turelles Lernen als Kernziele verfolgen. Die Entwicklung von Schutzkonzepten schafft Räume, in denen kulturelle Unterschiede als Bereicherung erlebt werden und junge Menschen sich gleichermaßen sicher und wertgeschätzt fühlen. Dadurch wird nicht nur die Sicherheit gestärkt, sondern gleichzeitig die Qualität der Internationalen Jugendarbeit nachhaltig verbessert.

4 Vgl. BundesForum Kinder- und Jugendreisen e. V. (2013). Schulungsmappe Sex. Sex! Sex? – Umgang mit Sexualität und sexueller Gewalt. 5 Vgl. Bundesjugendkuratorium: Das Recht junger Menschen auf Schutz vor Gewalt – Verantwortung aller jenseits institutioneller Grenzen, Zwischenruf vom 4. Februar 2021. Berlin

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Vernetzung und Kooperation: Fachkräfte aus verschiedenen Ländern teilen Wissen und Erfahrungen zur Stärkung der Prävention.

Standards setzen, die auf universellen Prinzipien wie den Menschenrechten basieren. 6 Transnationale Begeg- nungen verdeutlichen diese Anforderungen besonders deutlich. Sie ermöglichen kulturellen Austausch, persön- liche Entwicklung und den Abbau von Vorurteilen, stel- len jedoch besondere Anforderungen an Schutzkonzep- te. Denn gerade in interkulturellen Kontexten können Missverständnisse entstehen, die klare Regeln und offe - ne Kommunikation erfordern. Hier ist die Zusammen- arbeit mit internationalen Partnerorganisationen ent- scheidend. Nur durch Dialog und Verständigung können gemeinsame Standards entwickelt werden. Eine wirksame Prävention beginnt mit der Analyse potenzieller Risiken und erfordert klare Verhaltensregeln, transparente Kommunikation sowie die Sensibilisierung und Qualifizie ­ rung von ehrenamtlichen und haupt­ amtlichen Fachkräften.

6 Vgl. Der Paritätische Gesamtverband: Arbeitshilfe „Kinder- und Jugendschutz in Einrichtungen“ – Gefährdung des Kindeswohls innerhalb von Institutionen, aktualisierte 5. Auflage. Online verfügbar unter: https://www.der-paritaetische.de

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Räume, in denen kulturelle Unterschiede als Bereiche- rung erlebt werden, ermöglichen es jungen Menschen, aktiv teilzunehmen und voneinander zu lernen. So wird Sicherheit nicht als Selbstzweck verstanden, sondern als Basis für Teilhabe, Austausch und die Förderung inter- kultureller Kompetenzen – zentrale Ziele der Internatio- nalen Jugendarbeit. Ein Beispiel für diese Dynamik ist das Engagement von IJAB im Verbundprojekt „SchutzJu“ 8 . Dabei unterstützte IJAB die Entwicklung praxisnaher Instrumente, die Trä- ger bei der Gestaltung und Umsetzung von Schutzkon- zepten begleiten. Die im Projekt entwickelte Plattform schutzkonzepte-partizipativ.de bietet Fachkräften und Organisationen Zugang zu Materialien und Tools, die auf die Herausforderungen transnationaler Begegnun- gen zugeschnitten sind. Die Erfahrungen aus diesem Projekt-Prozess verdeutlichen, wie wichtig der Dialog zwischen verschiedenen Perspektiven, die Vernetzung und der kulturell sensible Austausch sind. Gerade in der Internationalen Jugendarbeit, wo transnationale Zusam- menarbeit und Vielfalt im Mittelpunkt stehen, ist dieser Austausch unverzichtbar. Zukünftige Herausforderungen liegen in der Weiter- entwicklung von Instrumenten, die den unterschiedli- chen Anforderungen von Trägern und internationalen Partnerorganisationen gerecht werden. Nur durch das Teilen von Wissen, die Einbindung aller Beteiligten und die Offenheit für neue Ansätze können Schutzkonzepte auch in Zukunft dazu beitragen, sichere und bereichern- de Räume zu gestalten.

Schutzkonzepte weiterdenken: Erfahrungen teilen, Perspektiven entwickeln Ein umfassendes Schutzkonzept ist kein statisches Regelwerk, sondern ein fortlaufender Prozess aus Ana- lyse, Prävention, Intervention und Aufarbeitung. 7 Dieser Kreislauf schafft ein sicheres und respektvolles Umfeld, das die Grundlage für Teilhabe und – im Kontext der Internationalen Jugendarbeit – für interkulturelles Ler- nen bildet. Gerade in der Internationalen Jugendarbeit, wo kulturelle Vielfalt und transnationale Zusammenar- beit im Mittelpunkt stehen, ist dieser Ansatz essenziell.

Kontakt Christoph Bruners Koordinator Qualifizierung und Weiterentwicklung der Internationalen Jugendarbeit/IJAB Mail: bruners@ijab.de

7 Vgl. Wolff, Mechthild/Schröer, Wolfgang/Fegert, Jörg: Schutzkonzepte in Theorie und Praxis, Weinheim 2017. 8 SchutzJu steht für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit & Jugendsozialarbeit. Hierbei handelt es sich um ein BMBF-Verbund- und Transferprojekt der Universität Kassel, Fachhochschule Kiel, der Stiftung Universität Hildesheim und der Hochschule Landshut in der Förderlinie „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“.

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

Safeguarding mit Leben gefüllt

Gregor Christiansmeyer

Eine Toolbox für die Arbeit mit internationalen Gruppen

Viele deutsche, aber auch britische oder polnische Organisationen der Jugendarbeit haben eine Safe­ guarding Policy oder ein Schutzkonzept. Aber was heißt das für die Praxis in konkreten, internatio­ nalen Jugendbildungsangeboten? Wie kann es gelingen, Konzepte auch organisationsübergreifend in eine Schutzpraxis zu übersetzen, die Gesundheit, Wohlbefinden und Rechte gerade junger Menschen in den Mittelpunkt stellt? Dazu haben sich die internationale Bewegung socioMovens, das Präventions­ team des Erzbistums Paderborn und die Kommende Dortmund in einer deutsch-polnischen Arbeits­ gruppe zusammengeschlossen und ein mehrsprachiges Methodenhandbuch entwickelt.

Die Safeguarding-Toolbox, die Ende 2024 zunächst auf Deutsch, Polnisch und Englisch vorliegt, 2025 aber auch in Kroatisch und weiteren Sprachen erscheint, ist keine wissenschaftliche Studie oder ein Reader mit Hinter- grundwissen zum Thema an sich. Sie ist vielmehr als pra- xisbezogene Methodensammlung konzipiert, die Wege aufzeigt, wie Safeguarding vor Ort in Angeboten für jun- ge Menschen erprobt und gelebt werden kann. Gerade mit internationalen Partner*innen kann es schwierig sein, über das Thema ins Gespräch zu kommen. Als Antwort darauf bietet die Toolbox niedrigschwellige, aber inhaltlich substanzielle Möglichkeiten an, ein siche- res und geschütztes Umfeld für alle, insbesondere für junge Menschen, zu schaffen. In der praktischen Umset - zung der vorgeschlagenen Methoden werden alle in der Internationalen Jugendarbeit Aktiven ermutigt, ein siche- reres Umfeld für ihre Teilnehmenden zu schaffen. Dazu werden im besten Fall ein Bewusstsein für diese Themen geschaffen, starke Schutzmechanismen etabliert und eine Kultur der Achtsamkeit gefördert. So kann poten- ziellen Risiken oder Sorgen um das Wohlergehen gefähr-

deter Personen in der Praxis vorgebeugt, im Zweifelsfall aber auch schlüssig reagiert werden.

Die 16 Methoden in der Toolbox sind für verschiedene Phasen der Vorbereitung, Durchführung und Nachberei- tung von mehrtägigen Aktivitäten mit jungen Menschen konzipiert. Neben dem Schwerpunkt auf der Vorberei- tung von Jugendprojekten im Team und mit den Erzie- hungsberechtigten schlägt die Toolbox auch eine Reihe von praktischen Möglichkeiten zur Sensibilisierung der Teilnehmenden und zur Safeguarding-bezogenen Evalu- ation und Reflexion der Jugendarbeitsangebote vor. Alle Methoden sind in erster Linie von der Jugendarbeitspra- xis der europäischen socioMovens-Bewegung inspiriert, können aber leicht auf andere Kontexte übertragen oder angepasst werden. Wie auch die Abbildung zeigt, sind die Methoden so auf- gebaut, dass eine Nutzung der Toolbox ohne weitere Vor- kenntnisse oder lange Vorbereitungszeit möglich ist. Da die gleichen Methoden in mehreren Sprachen vorliegen, kann auch mit mehreren Versionen parallel gearbeitet

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Auszug aus dem Methodenhandbuch

werden, was sich in der Praxis gerade bei schwierigen Begriffen oder Konzepten als sehr hilfreich erwie- sen hat. Auf den einzelnen Methodenseiten der Toolbox finden sich in Kurzform eine Metho- denbezeichnung, ein Überblick zu Inhalt

und Durchführung, eine Beschreibung der Zielgruppe und Gruppengröße für die jeweilige Methode sowie der benötigte Material- und Zeitaufwand. Es schließt sich eine Schritt-für-Schritt-Anleitung an, die die Umsetzung erleichtert. Auf diese Weise hat das Autor*innen-Team die Nutzung der Toolbox so einfach wie möglich gestal- tet. Um die Nutzer*innen weiter zu unterstützen, gibt es auch eine Einführung zu Spezifika der Internationalen Jugendarbeit, eine Reihe von Kopiervorlagen und ein Glossar mit Begriffsdefinitionen zum Abschluss. Viele der vorgestellten Übungen lassen sich sowohl im Kontext von Veranstaltungsformaten mit ausschließlich nationalen Gruppen als auch bei internationalen Begeg- nungen umsetzen. Dennoch gibt es mit dem Komplex Sprache(n), den unterschiedlichen gesellschaftlichen Diskursen zu Gewalt und Vernachlässigung oder ver- meintlichen Selbstverständlichkeiten Aspekte, die in der Internationalen Jugendarbeit besonders herausfordernd sind. Gleichzeitig bieten internationale Projekte aber auch spannende Perspektiven für Peer-Learning, die in einem rein nationalen Kontext so nicht zu erzielen wären. Das Autor*innen-Team hofft mit der Toolbox, die auf Anfrage auch versandt wird, andere zu einem Engage- ment im Bereich Safeguarding zu inspirieren und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Jugendar- beitspraxis zu leisten.

Worum geht es bei Safeguarding? Safeguarding meint den Schutz der Gesundheit, des Wohlbefindens und der Rechte von Schutzbefohlenen. Dabei geht es um verschiedene Formen von Gefähr- dung, wie z. B. ungerechte Behandlung, Gewalt, sexualisierter Missbrauch oder Freiheitsberaubung. Eine solche Gefähr- dung kann von vielen verschiedenen Quel- len ausgehen, z. B. von anderen schutz - bedürftigen Personen, Betreuer*innen, Familienmitgliedern oder sogar von den Betroffenen selbst. Daher ist Safeguarding eine wesentliche Aufgabe für die (Interna- tionale) Jugendarbeit.

Kontakt Gregor Christiansmeyer Leitung Fachbereich „Jugendsoziales Engagement in Europa“ Sozialinstitut Kommende Dortmund Mail: gregor.christiansmeyer@kommende-dortmund.de

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

Prävention sexualisierter Gewalt in internationalen Jugendprojekten

Kari Morgan

In einer zweijährigen länderübergreifenden Kooperation zwischen Organisationen aus Kroatien, Deutschland, Spanien und Wales wurde das Booklet „Safeguarding Our Young People“ entwickelt. Es gibt Empfehlungen, welche Absprachen zwischen internationalen Partnern sinnvoll sind, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Kari Morgan von den „Boys and Girls Clubs of Wales“ hat sie zusammengefasst.

Klare Absprachen vorab Die Festlegung klarer Erwartungen und Grenzen kann dazu beitragen, die Sicherheit von Mitarbeitenden, Frei- willigen und jungen Menschen, die am Jugendaustausch teilnehmen, zu verbessern. Vor der Projektdurchführung ist eine offene Kommunikation zwischen den Partnern über die zu erwartenden Verhaltensweisen und Grenzen von Mitarbeitenden, Freiwilligen und jungen Menschen von größter Bedeutung, da andere Normen, Werte und Gesetze oft zu unterschiedlichen Verhaltensweisen der Teilnehmenden führen. Wenn ein vereinbarter Verhal- tenskodex oder informellere „Hausregeln“ nicht umge- setzt werden können, kann es notwendig sein, mit einem anderen Projektpartner fortzufahren, dessen Arbeits- weise dem eigenen Angebot mehr entspricht. Bei der Durchführung eines Projekts besteht eine der hilfreichsten Strategien darin, eine*n Verantwortlichen für den Schutz von Kindern und Jugendlichen in der federführenden Partnerorganisation oder in der Orga- nisation des Gastlandes zu benennen. Diese*r steht zur Verfügung, wenn die Hauptansprechperson selber in eine Beschwerde verwickelt wird. Darüber hinaus sollte jeder Projektpartner eigene Verantwortliche für diesen Fall bestimmen, insbesondere um sicherzustellen, dass alle, die eine Beschwerde einreichen, dies nach Mög- lichkeit in der von ihnen gewählten Sprache tun können.

Im Rahmen internationaler Jugendarbeitsangebote muss das Risiko sexualisierter Gewalt sowohl vor als auch während der Durchführung eines Projekts berück- sichtigt werden. Nach den Medienberichten und der öffentlichen Empörung über vergangene Missbrauchs - fälle in ganz Europa wird deutlich, dass es in der Ver- antwortung derjenigen liegt, die Jugendangebote ent- wickeln und durchführen, solche Risiken anzugehen: Indem sie sicherstellen, dass angemessene Präventi- onsmaßnahmen und – was besonders wichtig ist – klare Strategien zur Meldung von Vorfällen vorhanden sind, um alle Beteiligten zu schützen. Vor allem im Zusammenhang mit internationalen Ange- boten kann man sich leicht in den Details der Gesetz- gebung verzettelt, die von Partnerland zu Partnerland unterschiedlich sein können. Es ist sinnvoller, das Gespräch über die Prävention sexualisierter Gewalt im Rahmen von Jugendprojekten zu eröffnen, sich auf Stan - dardmaßnahmen zu einigen, die die Risiken verringern können, und klare Kommunikationswege zu schaffen.

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Während des Austauschs können regel­ mäßige Treffen hilfreich sein, um Bedenken anzusprechen und Risiken zu minimieren.

Diese Personen sollten für die Entgegennahme, Auf- zeichnung und Bearbeitung aller Fälle von sexualisierter Gewalt während und nach dem Austausch zuständig sein. Sie können flexibel reagieren und sicherstellen, dass alle Teilnehmenden, die Unterstützung benötigen, gleichbehandelt werden. Während eines Austauschs kann es sinnvoll sein, regel- mäßige Treffen zwischen Mitarbeitenden, Freiwilligen und jungen Menschen abzuhalten, um auftretende Probleme oder Bedenken anzusprechen. Diese Treffen können wesentlich dazu beitragen, das Verständnis zwi- schen den Fachkräften zu verbessern, die so in der Lage sind, das Risiko bei der Durchführung zu verringern. Programme zum internationalen Jugendaustausch sind nicht nur eine Chance für junge Menschen, sondern auch eine Gelegenheit zum kulturübergreifenden, pro- fessionellen Lernen zwischen unterschiedlich qualifizier - ten Mitarbeitenden und Freiwilligen. In einer durch Medien geprägten Lebenswirklichkeit können wir die Auswirkungen der digitalen sexualisier- ten Gewalt nicht ignorieren. Dies muss bei der Ausar- beitung und Annahme des Verhaltenskodexes berück- sichtigt werden, insbesondere bei der Arbeit mit jungen Menschen unter 18 Jahren und in gemischten Kontexten (sowohl unter 18 als auch über 18 Jahren).

Nach dem Austausch können ausführliche Nachbespre- chungen und Auswertungen zwischen Mitarbeitenden, Freiwilligen und jungen Menschen in den jeweiligen Gruppen von entscheidender Bedeutung sein, um zuvor übersehene Fälle von sexualisierter Gewalt aufzudecken. Darüber hinaus kann die vollständige Einbeziehung der Prävention in die Bewertung und Nachbesprechung der Projektorganisatoren Informationen für künftige Prakti- ken, Partnerschaften und deren Durchführung liefern. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine effektive Kommunikation und Vorbereitung bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen in allen Aspekten eines Projekts – vom Beginn bis zum Abschluss – nicht nur die beste Praxis bei der Prävention sexualisierter Gewalt darstellen, son- dern auch entscheidend für die Entwicklung starker Part- nerschaften und erfolgreicher Jugendaktivitäten sind. Informationen zum multilateralen Projekt „Safeguarding Our Young People“ und der Broschüre mit den Empfeh- lungen, die daraus entstand: https://www.bgc.wales/ soyp-final .

Kontakt Kari Morgan

Boys and Girls Clubs of Wales Mail: info@bettwsbgc.wales

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

Gemeinschaftliches Lernen zum Wohle der Teilnehmenden

Anne von Fircks (AJA) und Matthias Lichan (Experiment e. V.)

AJA-Netzwerk Prävention – für einen sicheren Schüleraustausch Bei einem langfristigen Schüleraustausch gehen die Jugendlichen für bis zu ein Jahr ins Ausland. Sie verlassen ihr gewohntes Umfeld, um in einer Gastfamilie, in einer neuen Umgebung und mit neuen Bekanntschaften persönlich zu wachsen. Die durchführenden Austauschorganisationen übernehmen dabei die besondere Verantwortung, ein sicheres Lernumfeld für die minderjährigen Jugendlichen zu gestalten. Dazu gehört auch der Schutz vor sexuellen Belästigungen und sexuali­ sierter Gewalt. „Prävention ist für uns ein Herzensanliegen. Schließlich ist jeder Fall einer zu viel.“, sagt Jan Schütte, Geschäftsführer im AJA-Arbeitskreis gemeinnütziger Jugendaustausch.

Die gemeinnützigen Austauschorganisationen, die im AJA organisiert sind, haben dafür 2006 das „Netz- werk Prävention – gegen sexualisierte Gewalt“ gegrün- det. Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe treffen sich die AJA-Organisationen mehrmals pro Jahr, um einerseits Präventionsstrategien für die Sicherheit und die menta- le Gesundheit ihrer Programmteilnehmenden zu entwi- ckeln und an aktuelle Herausforderungen anzupassen. Andererseits geht es um vertrauensvollen Austausch zum Umgang mit Vorfällen und gemeinschaftliches Ler- nen zum Wohle der Teilnehmenden der Organisationen. Der Dachverband AJA hat gemeinsam mit seinen Mitglie- dern Qualitätsstandards für den internationalen Jugend- austausch entwickelt. Diese Standards bilden die Grund- lage für die Zusammenarbeit im AJA und umfassen auch die vom Netzwerk Prävention erarbeiteten Maßnahmen. Basierend auf den Qualitätskriterien haben die acht Mitgliedsorganisationen jeweils eigene Schutzkonzepte entworfen. So beispielsweise Experiment e. V.: Matthi - as Lichan, Ansprechpartner für „Health & Safety“ und Direktor Einreiseprogramme beschreibt die konkreten

Schritte und Maßnahmen, die Experiment umgesetzt hat, um die Teilnehmenden im Schüleraustausch best- möglich zu begleiten, wie folgt: Benenne Ansprechpersonen: Experiment hat bereits im Jahr 2006 innerhalb der Geschäftsstelle ein Health & Safety-Team gegründet, das als Ansprechpartner für die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und für die deutschen und internationalen Austauschschüler*innen zur Verfügung steht. Bilde deine Mitarbeitenden weiter: Alle ehrenamt- lichen und hauptamtlichen Mitarbeitenden werden regelmäßig durch interne Schulungen und externe Expert*innen, wie die „Beratungsstelle gegen sexuali- sierte Gewalt“ in Bonn oder den „MHFA Ersthelfer-Kurs“ weitergebildet. Definiere, was zu tun ist: Es gibt ein umfassendes Präventionskonzept und Handbücher, in denen Struk- turen, Abläufe und Notfallpläne definiert sind. So ist exakt geregelt, welche Schritte in bestimmten Situa-

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tionen unternommen werden müssen, wer informiert und involviert werden muss. Auch ein Kriseninterventionsteam kann bei Bedarf gebildet werden.

Alle ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeiten- den sowie die Teilnehmenden im In- und Ausland und die Gastfamilien in Deutschland unterzeichnen eine Selbstverpflichtungserklärung. Die Vorlage erweiterter Führungszeugnisse ist für Mitarbeitende und Gastfami- lien in Deutschland obligatorisch. Bereite die Jugendlichen gut auf den Austausch vor: In einem mehrtägigen Vorbereitungs- bzw. Ori- entierungsseminar werden die Jugendlichen auf den Austausch vorbereitet. Dafür wurden eigene Module entwickelt, die unter anderem das Thema Grenzen der Anpassung und Verhalten bei Grenzüberschreitungen behandeln. Alle Teilnehmenden erhalten Kontaktinfor- mationen und Notfallnummern, um im Zweifel 24 Stun- den am Tag Hilfe zu erhalten. Betreue die Schüler*innen im Austausch: Im Aus- land ist die Partnerorganisation Ansprechperson für die Schüler*innen. Hier setzt Experiment auf langjährige Zusammenarbeit und aktiven Austausch während der Durchführung der Programme. Die Jugendlichen und ihre Eltern haben weiterhin ihre Experiment-Ansprech- person in Deutschland und können sich über die Notfall- kontakte an Experiment wenden. Matthias Lichan von Experiment e. V. fasst die Arbeit sei - ner Organisation wie folgt zusammen: „Wir arbeiten seit vielen Jahren mit Präventionskonzepten, die unsere Teil- nehmenden, Gastfamilien, ehrenamtlichen und haupt- amtlichen Mitarbeitenden für physische und psychische Grenzen sensibilisieren, führen einen offenen Dialog und behandeln das Thema nicht als ein Tabu.“

Über den AJA AJA ist der Dachverband von acht gemeinnützigen Jugendaustauschorganisationen in Deutschland. AJA setzt Qualitätsstandards und fördert die Verankerung des langfristigen internationalen Jugendaustauschs in der deutschen Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sowie in der Jugendpolitik.

Kontakt Anne von Fircks Referentin für Öffentlichkeitsarbeit und Online-Marketing AJA Mail: info@aja-org.de

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

INTERVIEW

Schulung, Schulung, Schulung!

Christian Herrmann

Interview mit Isabella Maier, Deutscher Bundesjugendring

Es mangelt nicht an Schutz- und Präventionskonzepten gegen sexualisierte Gewalt, aber nicht immer werden sie mit Leben gefüllt. Isabella Maier ist Referentin für Prävention sexualisierter Gewalt beim Deutschen Bundesjugendring und möchte das ändern. Die Redaktion von beyond hat sie gefragt, was ein gutes Schutzkonzept ausmacht und wie es umgesetzt werden kann.

IJAB: Frau Maier, kann man sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche quantifizieren? Wie groß ist das Problem, über das wir sprechen?

IJAB: Das sind die Zahlen für alle Bereiche der Gesell ­ schaft. Sieht es in der Jugendarbeit – und auch in der Internationalen Jugendarbeit – vielleicht anders aus? Isabella Maier: Es gibt keinen Grund das anzuneh- men. Sonst wäre ja beispielsweise die Jugendhilfe nicht aufgefordert, Schutzkonzepte gegen sexualisierte Ge- walt zu entwickeln, außerdem zeigen Studien, dass für Täter*innen die Jugendarbeit sogar sehr attraktiv ist. Sie sind nah dran an Kindern und Jugendlichen, können unauffällig Kontakte knüpfen und da viele Tätigkeiten ehrenamtlich sind, ist der Einstieg relativ einfach, sollte der Träger das Thema verdrängen und nicht hinsehen. Internationale Jugendarbeit hat nochmal besondere Be- dingungen: eine neue Umgebung, eine fremde Sprache oder gegebenenfalls der Aufenthalt in einer Gastfamilie. Das alles öffnet für Täter*innen weitere Möglichkeiten. Träger sollen von Ehrenamtler*innen ein polizeiliches Führungszeugnis verlangen, aber sie sollten sich auch bewusst sein, dass die Wirkung nur bedingt ist und dies keinen umfassenden Schutz bietet. Ein weiteres Feld sind die unterschiedlichen Rechtslagen in den Gastlän- dern. Dafür muss man nicht weit fahren – in Italien und Spanien kann nationales Recht schon anders aussehen als in Deutschland.

Isabella Maier: Das ist nicht unbedingt leicht zu beant- worten, denn wir sprechen über ein sogenanntes Hell- und ein Dunkelfeld – also über die Fälle, von denen wir wissen und über diejenigen, von denen wir annehmen müssen, dass es sie gibt. Pro Jahr ermittelt die Polizei in etwa 19.000 bis 23.000 Fällen. Expert*innen schätzen die Zahl der Betroffenen aber viel höher. Es ist davon auszu - gehen, dass in jeder Schulklasse ein bis zwei junge Men- schen sitzen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, in jüngster Zeit wird die Zahl sogar höher geschätzt. Darin sind nicht alle Vorfälle enthalten, zum Beispiel gibt es Fäl- le, die häufig bagatellisiert werden – also zum Beispiel sexualisierte Bemerkungen oder „kleine“ ungewollte Be- rührungen, die häufig erst gar nicht gemeldet werden. Klar ist, Täter*innen gehen strategisch vor und nutzen Situationen aus oder führen sie herbei. Wir als Jugend- verbände nehmen alle Fälle ernst, daher benutzen wir auch den Begriff sexualisierte Gewalt.

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Außerdem ist es unabdingbar, das Schutzkonzept an die Bedürfnisse der Gruppe anzupassen. Es muss geklärt werden, welche sozialen, gesellschaftlichen und gesetz- lichen Bedingungen das Reiseziel stellt und wie man darauf reagiert und informiert. Ein gutes Konzept bezieht alle ein IJAB: Das betrifft jetzt alles sexualisierte Gewalt von Erwachsenen gegen Kinder und Jugendliche. Wie sieht es bei Peer-Gewalt aus? Isabella Maier: Die sehen wir natürlich auch – auch wenn wir eher von Gewalt durch Kinder und Jugendliche allgemein sprechen. Wir erleben Mobbing – auch mit me- dialer Unterstützung – oder Erpressung. Auch das Thema der Bystander*innen wird vermehrt fokussiert, also die jungen Menschen und Strukturen die „nichts“ tun, um Taten zu vermeiden oder diese gar indirekt fördern. Da gibt es leider ziemlich viel.

den ist und im Bett bleiben muss? Wie gehen wir mit Fotos und Videos von Kindern und Jugendlichen um? Haben wir eine Social-Media-Guideline? Jeder Verein hat inzwischen eine Chat-Gruppe. Was für Regeln gelten dort? Es braucht ein funktionierendes Beschwerdemanagement

IJAB: Und wie erreicht dann das Konzept die Menschen?

Isabella Maier: Schulung, Schulung, Schulung! Das be- trifft junge Menschen und wie sie Grenzen ziehen können und sprechfähig werden können, wenn sie sich in einer Situation unwohl oder bedrängt fühlen. Im Jugendchor können zum Beispiel die Stühle zu eng stehen und dann sitzt jemand eingekeilt zwischen zwei Personen, die auch noch die Beine spreizen. Wir alle kennen solche Situati- onen aus der U-Bahn. Es geht aber auch um Eltern, mit denen man zum Beispiel auch über Medienkompetenz sprechen kann. Es betrifft Jugendleiter*innen, es betrifft den ganzen Verein. Sogenannte „Beauftragte“ für sexua- lisierte Gewalt sind gut, aber alle müssen mitziehen. Es braucht ein funktionierendes Beschwerdemanagement mit Vertrauenspersonen, an die sich junge Menschen wenden können. Manchmal kann es auch nötig sein, dass sie sich anonym melden können oder auch im Nachgang zu einer Veranstaltung, bei der sie sich unwohl gefühlt haben. Dafür kann man eine spezielle E-Mail-Adresse einrichten, die von den ausgebildeten Vertrauensleuten gepflegt wird und auch den Teilnehmenden bekannt ist. Es gibt eine ganze Reihe cooler Methoden, die auch Spaß machen können. Wichtig ist es, am Ball zu bleiben und weiterzumachen.

IJAB: Was leistet ein gutes Schutz- oder Präventions­ konzept?

Isabella Maier: Ich würde grundsätzlich immer von einem Schutzprozess reden. Es mangelt nicht an Konzepten, aber häufig werden sie nicht gelebt oder strategisch eingeführt. Ein guter Prozess bezieht alle ein. Alle müssen von ihm wissen und regelmäßig geschult werden – von der Lei- tung bis zum*r Hausmeister*in. Grundlage hierfür ist eine Analyse von Schutz- und Risikofaktoren, die z. B. spezifi - sche Gefährdungsfaktoren benennen. Dabei sollte nichts verschwiegen oder in Watte gepackt werden. Ein solcher Prozess muss partizipativ gestaltet werden und junge Menschen einbeziehen. Am Ende müssen praxisnahe, ver- ständliche Vereinbarungen, Leitfäden und Regeln stehen. Nehmen wir Kinder auf den Schoß? Wie halten wir es mit Umarmungen? Unterhaltungen sollten nicht auf dem Bett stattfinden. Wie gehen wir mit 1:1-Situationen um? Wie be - treuen wir eine Person, die auf der Freizeit krank gewor-

Kontakt Isabella Maier Deutscher Bundesjugendring Referentin für Prävention sexualisierter Gewalt Mail: isabella.maier@dbjr.de

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

INTERVIEW

Beteiligung für bessere Wirksamkeit

Christian Herrmann

Interview mit Lena Groh-Trautmann, Servicestelle Jugendbeteiligung

Es gibt in vielen Organisationen der Jugendarbeit Konzepte zur Prävention sexualisierter Gewalt, aber sie sind oft kompliziert oder sogar unbekannt. Jugendbeteiligung könnte dafür sorgen, dass junge Menschen Schutzkonzepte so mitentwickeln, dass sie ihren Bedürfnissen gerecht werden, vor allem aber, dass sie bekannt sind und dadurch auch wirksam werden können.

IJAB: Warum ist Jugendbeteiligung ein Thema für die Prävention von sexualisierter Gewalt?

IJAB: Was wird durch Jugendbeteiligung anders?

Lena Groh-Trautmann: Jugendbeteiligung sorgt dafür, dass junge Menschen von den Schutzkonzepten wissen und sie nutzen können. Das Vorhandensein von Schutz- konzepten sorgt noch nicht dafür, dass sie auch Anwen- dung finden und wirksam schützen. Jugendbeteiligung sorgt dafür, dass junge Menschen sich mit dem Thema sexualisierte Gewalt auseinandersetzen, ihre Grenzen ausdrücken können und bei Gewalt sprechfähig sind. Ju- gendbeteiligung sorgt z. B. auch dafür, dass Schutzkon - zepte niederschwellig aufgebaut sind. Viele Meldeverfah- ren, die einen Teil von Schutzkonzepten darstellen, sind kompliziert und sorgen so dafür, dass sie nicht angewen- det werden. Außerdem ist die Wahrnehmung junger Men- schen oft anders als die von Erwachsenen. Das wird zum Beispiel bei der Beschreibung von Angsträumen deutlich. Hier haben junge Menschen häufig einen anderen Blick auf Situationen, die Übergriffe und Grenzverletzungen wahrscheinlicher machen. Diese Perspektive in Schutz- konzept einzubauen ist essenziell.

Lena Groh-Trautmann: Das Thema Prävention von sexualisierter Gewalt ist relevant für die Jugendarbeit, denn wann immer Menschen zusammenkommen, kann es auch zu Übergriffen und Gewalt kommen. Selbstwirk - samkeit und Empowerment sind ein wichtiger Bestand- teil von Jugendbeteiligung und damit auch von Jugend- arbeit und deshalb muss Jugendbeteiligung auch Teil von Prävention sein. Jugendbeteiligung sorgt dafür, dass Schutzkonzepte nicht nur beschlossen werden und dann in der Schublade landen.

Die Beschäftigung mit dem Thema sexualisierte Gewalt ist auch eine große Chance

Was unsere Arbeit mit anderen Organisationen angeht: Wir führen hauptsächlich Kurzzeitmaßnahmen durch – beispielsweise in Schulen. Aber wir sind auch in der Ju- LeiCa-Ausbildung aktiv und nutzen sie dafür, angehende Jugendleitungen gut auf das Thema sexualisierte Gewalt in der Jugendarbeit vorzubereiten und ermutigen andere, das auch zu tun. Es geht darum Sprechfähigkeit herzustel- len und immer wieder Gesprächsanlässe zu bieten. Wie ist das, wenn man zum ersten Mal von zu Hause weg ist? Was ist, wenn man mit mehreren Personen in einem Zimmer übernachtet? Was ist beim gemeinsamen Duschen okay und was nicht? Ganz wichtig ist es, gegenüber jungen Men- schen Ansprechpartner*innen zu benennen, denen sie vertrauen können. Dass das oft nicht der Fall ist, erleben wir zum Beispiel im schulischen Kontext. Lehrer*innen und Eltern sind eben oft nicht die Personen, denen man sich direkt anvertraut. Aus wissenschaftlichen Studien wis- sen wir, dass junge Menschen teilweise bis zu acht Erwach- sene ansprechen müssen, bis sie ernst genommen werden. Im Kontext unserer Freizeiten behandeln wir Übergriffig - keit im größeren Kontext von „wie gehen wir miteinander um, was sind unsere Grenzen?“. Da werden dann auch Regeln vereinbart, also zum Beispiel keine Spiele wie Fla- schendrehen, die schnell aus dem Ruder laufen können und in denen nicht unbedingt Einverständnis herrscht. Man kann auch Leseecken aufstocken, es gibt einige gute Materialien zum Thema, zum Beispiel von den Falken. Das kann ein Gesprächsanlass sein. Wir achten außer- dem auf die Sprache. Wir benutzen das Wort Missbrauch zum Beispiel nicht, weil es suggeriert, dass es auch einen regelgerechten Gebrauch gibt und wir sprechen nicht von Kinderpornografie, sondern von der Darstellung sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Ein Tipp für Organisationen: Oft ist es gut, sich Partner ins Boot zu holen und Organisationen von extern in Anspruch zu nehmen, die sich mit dem Thema gut auskennen. Für junge Menschen kann das ein Anlass sein, über Dinge zu sprechen, über die sie sonst nicht oft sprechen.

IJAB: Über sexualisierte Gewalt und wie junge Men ­ schen geschützt werden können, wird nicht gerne öffentlich geredet. Worauf führen Sie das zurück? Lena Groh-Trautmann: Es ist tatsächlich für Organisa- tionen kein angenehmes Thema. Wenn ich uns selbst anschaue, dann sagt uns die Statistik, dass es auch bei uns in der Zeit unseres Bestehens Vorfälle gegeben ha- ben muss. Das ist kein gutes Gefühl, besonders, weil wir wissen, dass in den meisten Fällen nicht eine unbe- kannte Person der Täter oder die Täterin ist, sondern jemand aus dem direkten Umfeld des Opfers. Man hat die Täter*innen also zumeist in der eigenen Organisati- on oder ihrem Umfeld. Das ist beunruhigend. Außerdem wissen wir von übergriffigem Verhalten zwischen jungen Menschen. Diese Peer-Gewalt ist nur schwer zu greifen. Wir müssen zudem sehen, wie politisch aufgeheizt die öffentliche Diskussion ist. Wir haben in den letzten Jah - ren eine ganze Kette von Fällen erlebt, in denen sexuali- sierte Gewalt von den Opfern öffentlich gemacht wurde. Prompt gab es zahlreiche Reaktionen, bei denen die Vor- fälle als „normale Sache“ bagatellisiert wurden. Es ist also für eine Organisation nicht leicht, sich diesem Thema zu stellen. Trotzdem schlafe ich als Geschäftsführerin der Servicestelle Jugendbeteiligung besser, wenn ich weiß, dass das Thema bei uns nicht tabuisiert wird und wir uns damit auseinandersetzen, um bestmöglichen Schutz und Unterstützung zu bieten. Insofern können Organisati- onen die Beschäftigung mit dem Thema auch als große Chance wahrnehmen, denn sie trägt etwas zu einem si- cheren Umfeld junger Menschen bei und das ist nicht nur unser Job, sondern ein sicheres Umfeld ist Grundlage für die Arbeit in der Kinder- und Jugendarbeit. Oft ist es gut, externe Partner ins Boot zu holen

IJAB: Unterstützt die Servicestelle andere Organisationen bei solchen Prozessen?

Lena Groh-Trautmann: Nicht direkt. Aber wir bieten die Möglichkeit für Austausch und man kann sich sicher gut Dinge bei uns abschauen und gemeinsam lernen. Bei al- len Fragen zu „Wie kann Beteiligung gelingen“, stehen wir selbstverständlich als Partner*in zur Verfügung.

Kontakt Lena Groh-Trautmann Geschäftsführerin der Servicestelle Jugendbeteiligung Mail: lena@jugendbeteiligung.info

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IM FOKUS – Schutz und Prävention

Was sagen die Träger?

Tom Fixemer und Elisabeth Tuider

Befragung zu Schutzkonzepten in der Internationalen Jugendarbeit

IJAB und die Universität Kassel haben im Projekt SchutzJu zwei Jahre lang gemeinsam mit 40 Orga­ nisationen der Internationalen Jugendarbeit Schutzprojekte gegen sexualisierte Gewalt entwickelt und zusammengetragen. Ein wichtiges Ergebnis der Befragung von Trägern der Internationalen Jugendarbeit ist: Wirksame Schutzkonzepte sollten partizipativ gedacht werden.

Internationale Jugendarbeit findet in Deutschland nicht nur im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe statt, son- dern umfasst neben und in Verschränkung mit Schule außerhalb des Unterrichts (z. B. internationale Klassen- oder Schüler*innenaustausche) alle Bereiche von orga- nisierter Bildung. Oft ist es gut, externe Partner ins Boot zu holen Dies sollte und kann auch Anknüpfungspunkt für die partizipative Entwicklung von Schutzkonzepten in der Internationalen Jugendarbeit sein. Denn bislang ist die Mitbestimmung junger Menschen und die Einbeziehung von deren Sichtweisen auf Schutz, Gewalt und Sexuali- tät 1 bei der Entwicklung von Schutzkonzepten als Orga- nisationsentwicklungsprozess noch eher randständig 2 . In der Online-Befragung „SchutzJu“ des gleichnamigen Forschungsprojektes (Laufzeit 2021–2024, gefördert vom BMBF) geben 47 % der befragten Mitarbeitenden der Internationalen Jugendarbeit an (n = 74), „ein Schutz- konzept liegt noch nicht vor“, aber es ist in Planung. 15 %

der Befragten wissen nicht, ob ein Schutzkonzept für die Internationale Jugendarbeit vorliegt. Und nur zu 18,5 % werden junge Menschen bei der Schutzkonzep - tentwicklung bislang beteiligt. Wenn Beteiligung in der Internationalen Jugendarbeit umgesetzt wird, dann eher bei Alltagsfragen (77,5 %, n = 80), und kaum bei strukturellen Entscheidungen der Internationalen Jugendarbeit (7,5 %, n = 80). Schutzkonzepte werden verstanden als langfristig angelegte partizipative Organisationsentwicklungspro- zesse zum Schutz vor sexualisierter Gewalt, durch die Verwirklichung und Stärkung der höchst persönlichen Rechte junger Menschen sowie zur Sicherung sexu- eller und geschlechtlicher Selbstbestimmung. Diese Implementierung und Umsetzung von Schutzkonzep- ten stellt einen Organisationsprozess unter Berück- sichtigung jugendlicher Lebenswelten dar und bedarf sowohl top-down- als auch bottom-up-Mechanismen, die ineinandergreifen müssen. Die organisationale Schutzkonzeptentwicklung sieht folgende Bestandteile vor: formatspezifische Ressourcen- und Risikoanaly - sen, Präventions- bzw. Sensibilisierungsmaßnahmen,

1 Fixemer, Tom/Henningsen, Anja/Rusack, Tanja/Tuider, Elisabeth (2024): Sexualität und Gewalt: Normalitätskonstruktionen junger Menschen. Zeitschrift für Sexualforschung 37(01), S. 17–28. DOI: 10.1055/a-2181-0447 2 Henningsen, Anja/Herz, Andreas/Fixemer, Tom/Kampert, Meike/Lips, Anna/Riedl, Sonja/Rusack, Tanja/Schilling, Carina/Schmitz, Alina Marlebe/ Schröer, Wolfgang/ Tuider, Elisabeth/Winter, Veronika und Wolff, Mechthild (2021). Qualitätsstandards für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit. DOI: https://doi.org/10.25528/071

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