EDITORIAL
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Liebe Eisenbahnfreunde,
der Ukraine-Krieg durchdringt uns in Lebenslagen, wie wir es uns vor we- nigen Monaten nicht vorstellen konn- ten. Die Eisenbahn spielt wie jeher eine Rolle dabei: Wieder einmal ist sie das wichtigste Transportmittel bei Flucht und letztendlich Vertreibung. Die Frage, ob das Thema Flucht und Eisenbahn in die Eisenbahn-Roman- tik gehöre, habe ich mir nie gestellt. Aber ich würde sie immer mit einem klaren Ja! beantworten. Vor 60 Jahren hatte Karl Ernst Mädel fast beiläufig, aber in der ihm eigenen unterhaltsa- men Art die Entwertung des Begriffs „Romantik“ bemängelt und die leid- liche Entsagung der Gefühlsbetonung bei „Fachleuten“ thematisiert (Lok Magazin 2/1963). Ich stimme ihm auch Jahrzehnte später zu. Ausge- rechnet beim Thema Eisenbahn, das wie kaum ein anderes Verkehrsmittel an der Schnittstelle zwischen Sozial- räumen und gebauten Räumen unter- wegs ist und ausgerechnet dort, wo wir ständig mit Gefühlswelten von Begeisterung bis Traurigkeit konfron- tiert sind, haben wir uns unserer Ge- fühle nicht zu schämen: Die Eisen- bahn ist schön, Schallschutzwände ohne Gestaltungsanspruch sind furchtbar, die Eisenbahnfahrt ist be- reichernd und der laut Telefonieren- de, der das Großraumabteil unterhält, nervt ungemein. Sie und ich, liebe Le-
ser, sehnen und suchen die romanti- sche Erfahrung, der grimmige Eisen- bahnfachmann im Grunde genommen auch, das wissen wir. Nun aber Krieg und Flucht: Das ist nicht romantisch. Aber es gehört (leider!) zur Kulturer- fahrung der Eisenbahn. Nicht um- sonst haben wir die Rubrik „Kultur des Reisens“ eingeführt, der Kultur- begriff ist hier stets breit und perspek- tivisch zu verstehen. Deshalb berich- tet dort der talentierte angehende Foto-Journalist Raphael Knipping von seinen Erfahrungen in den Bahn- höfen Przemyśl und Lviv (S. 86ff). Ihn und seine Projekte kennenzulernen und ihnen hier Raum zu geben, ist mir eine Ehre. Und noch etwas: Unter dem Krieg leiden wieder einmal Tau- sende Kinder. Sie werden die Eisen- bahn Zeit ihres Lebens vor allem als Inbegriff eines Leidensweges unterm Herzen tragen. Wie anders erging es da neulich dem kleinen Morris aus den Niederlanden, der in Freiheit und unbekümmert den Dampfzug im Harz genießen konnte und mit erhitz- tem Gesicht seiner Freude Ausdruck verlieh: „Schööön!“ (oben). Schönheit und Schrecken, Romantik und kalte Rationalität liegen nahe bei- einander. Die Eisenbahn-Romantik
Der kleine Morris genießt die Eisenbahn (ganz oben links), ukrainische Kinder verbinden derzeit die Eisenbahn mit ganz ande- ren Gefühlen (daneben). Oben: Treffen mit Journalist Raphael Knipping (ab S. 86).
verschließt sich dem nicht. Ihr Hendrik Bloem
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