KULTUR DES REISENS
Krieg ist
Flucht und Eisenbahn. Der traurige Zusammenhang seit jeher Menschenleid!
M an kann die Geschichte des 20. Jahrhun- derts als eine Geschichte scheiternder Im- perien, gewaltfixierter Ideologien oder rie- siger Schlachten schreiben. Oder als eine Geschichte der Flucht, Vertreibung, Deportation, Internierung und Zwangsarbeit. Eine Geschichte von hungern- den Menschen auf eisigen oder sonnendurchglühten Landstraßen oder hinter Stacheldraht, eine Geschichte von Müttern, denen eine hilfreiche Hand irgendwann den längst toten Säugling aus den Armen nimmt. Und immer wieder eine Geschichte von Menschen, denen der Güterwagen zum kargen Rettungsboot oder zur Todeszelle geworden ist.
Mein Sohn Raphael zeigte schon in sehr jungen Jahren die Neugier auf politische und historische Zusammen- hänge. Er hat die unfreiwillige Migration an den Au- ßengrenzen der Europäischen Union zu einem seiner journalistischen Berufsfelder gemacht. Ich konnte nicht ahnen, dass ein größenwahnsinniger Diktator ihn im 21. Jahrhundert veranlassen würde, meine Betrachtungen zur Völkerwanderung auf der Schiene mit einem neuen Kapitel der Angst und der Tränen fortzusetzen. Ich ergänze seine Farbfotos mit 80 Jahre alten Schwarz- Weiß-Aufnahmen. Der Fotograf des Reichsverkehrs- ministeriums Walter Hollnagel hat in Kertsch auf der Ostspitze der Krim einen Zug mit Flüchtlingen aus dem Kaukasus aufgenommen, die 1943 aus Angst vor Stalins Repressalien gegen nationale Minderheiten am deutschen Rückzug westwärts teilnehmen (oben). Und wir sehen am 16. Juni 1940 nahe Soisy-Bouy südöstlich von Paris einen Zug, der auf der millionenfachen Flucht der französischen Zivilbevölkerung vor der deutschen Wehrmacht als provisorisches Quartier dient. Fotogra- fiert hat der RVM-Berichter Hoffmann (links). Andreas Knipping
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