NACHTSALON
Die Christel von der Bahn
F ür einen Moment wird’s Dampf-Sonderschnellzug Richtung Görlitz prescht durch! Vor einigen Minuten ist er frühmorgens am 14. Oktober 1995 im Cottbuser Hauptbahnhof gestartet und hat hier nach fünf Kilometern Fahrt die 100 km/h-Marke erreicht. Parade- pferd 03 204 des Lausitzer Dampf- lokclubs zeigt eindrucksvoll, was in ihm steckt. Die Fahrdienstleiterin ist für die Schranken zuständig, die wie in alten Zeiten mit der Hand gekurbelt werden. In der Lausitz ist noch unverfälscht traditionelle Eisenbahn-Infrastruktur zu erleben, das muss dringend fotografisch festgehalten werden! Christel Arlt bleibt auf meinen Wunsch an den Kurbeln stehen, lässt das Dampf- inferno an sich vorbeirasen und grüßt die Kollegen auf dem Führer- stand. Die Plattenkamera mit ihrem Stativ habe ich so tief wie möglich über dem Boden postiert, um die wirbelnden Zweimeterräder gebüh- rend in Szene zu setzen. So nahe turbulent im kleinen Halte- punkt Kiekebusch: der am Objekt muss ich weit abblenden, um die nötige Schärfentiefe zu er- zielen. Blende 16 verlangt nach der
geballten Lichtleistung von 46 Blit- zen, die verkabelt synchron von der Kamera ausgelöst werden. Die Verschlusszeit von 1/125 Sekunde lässt noch die Bewegung der Räder erahnen. Seit gut zwei Jahren ist die Pazifik wieder im Einsatz; nach ihrem jahrzehntelangen Stillstand als Denkmal am Bw Cottbus hat der Lausitzer Dampflokclub sie großenteils in Eigenarbeit betriebs- fähig aufgearbeitet und ihr zu einer erneuten internationalen Schnell- zug-Karriere verholfen. Auch dieser Sonderzug wird nach Polen fahren! 03 204 bleibt für Jahre das Dampf- Aushängeschild der Region, bis sie 2010 wegen Fristablaufs abgestellt wird. Ihr originaler Altbaukessel von 1933 erweist sich als Hürde: er ist inzwischen irreparabel verschlis- sen. Der Club wagt einen großen Schritt: im Dampflokwerk Meiningen wird für sie ein neuer Dampferzeu- ger der Originalbauart konstruiert und gebaut! Wünschen wir ihr, dass sie bald wieder der Dampfstar der Lausitz sein kann! Und die Strecke? Wird sich in den nächsten Jahren zur modernen Schnellfahr-Magistrale mausern. Adieu Idylle! Axel Zwingenberger
Anmerk. d. Red.: Der prominente Künstler Axel Zwingenberger gibt mit seinen Bildern, die selbst Kunstwerken gleichen, Einblick in sein langjäh- riges Schaffen und schlägt auch sensible Brücken zur Gegenwart des Nostalgiebetriebes. Zu seinem exzellenten Band „Vom Zauber der Züge. Eine Reise durch die Nacht in Bildern und Musik“ mit Audio-CDs und Notenheft geht es hier: boogiewoogie.net
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