Straßenbahn Magazin

Fahrzeuge

Z ur Blütezeit der TFS in Frankreich Anfang der 1990er-Jahre entwickelte der Prager Tram- bauer ČKD Tatra seine erste Niederflurbahn und kopierte frech und offensichtlich das fran- zösische Vorbild. Einer der Auslöser war, dass der heute renommierte Prager Architekt und Industriedesigner Patrik Kotas 1989 bei der École d‘Architecture de Versailles ein Praktikum mach- te und mit den damals hochmodernen TFS2 in Grenoble in Kontakt kam. Kotas entwarf folglich den normalspurigen Tatra RT6N1 als dreiteiligen Einrichter mit 63 Prozent Niederfluranteil. Gleich dem TFS2 hatte der RT6N1 ein kurzes Mittel- modul mit Laufgestell und aufgesetzten, langen Endwagen. Auch der RT6N1 war im mittleren Bereich niederflurig und vorne und hinten über den angetriebenen Drehgestellen hochflurig. Als Hauptunterschied zum TFS2 waren vorne und hinten im Heck einflügelige Einstiegstüren für die Fahrgäste eingebaut. Der Prototyp des Tatra RT6N1 wurde 1993 auf der Messe in Brünn (Brno) präsentiert. Bis 1996 folgten Test- und Präsentationsfahrten in mehre- ren tschechischen und polnischen Städten, ehe im Herbst 1996 in Prag der kurzlebige kommerzielle Einsatz mit Fahrgästen begann. Während die TFS bei der Technik ausgereift und zuverlässig waren, hatte der RT6N1-Prototyp vielfältige Mängel und verdeutlichte die Unerfahrenheit von ČKD mit der Niederflurtechnik. Nachdem die Verkehrsbetriebe Eine tschechische Kopie

Noisy-le-Sec erweitert sowie 2012 und 2019 westlich nach Asnières-Gennevilliers/ Les Courtilles. Für den Einsatz auf der T1 lieferte Alsthom 1992 eine Erstserie von 17 Wagen. 1996 und 1997 folgten zwei weitere TFS2, die wie jene für Grenoble aus dieser Produktionszeit mit Drehstrom- Asynchronmotoren ausgestattet waren. Im Juli 1997 wurde im Südwesten von Paris die Linie T2 eröffnet und anfäng- lich ebenfalls mit 16 TFS2 betrieben. Bald konnten diese der starken Nachfrage der Linie nicht mehr gerecht werden, sodass ab 2002 die Einführung der Alstom Cita- dis der Reihe 302 folgte. 2003 und 2004 wurden sämtliche TFS2 von der Linie T2 abgezogen und auf die T1 umgesetzt. Dort ist die vollständige Außerbetriebnahme der 35 Pariser TFS2 bis Herbst 2025 ge- plant. Im Dezember 2024 wurden dafür die ersten Alstom Citadis der Reihe 405 in Betrieb genommen. Diese markanten Zweirichter werden in einem späteren Bei- trag im STRASSENBAHN MAGAZIN vorgestellt. Der Unterhalt der Pariser TFS- Flotte erfolgt im Depot Bobigny, welches auch Triebzüge der Métro-Linie 5 betreut. Rouen braucht mehr Für die im Dezember 1994 in Rouen er- öffnete Tramway der zweiten Generation wurden 27 stahlblaue TFS2 in die Nor- mandie geliefert. Aus Marketinggründen und weil im Stadtzentrum die Straßen- bahn in einem 1.850 Meter langen Tunnel mit vier unterirdischen Stationen verläuft, wird der Betrieb als „Métro“ bezeichnet. Wie auf der Pariser Linie T2 wurden die Bahnen in Rouen ein Opfer des eigenen Erfolges und waren der starken Nachfrage nicht gewachsen. Ab Ende 2011 wurden alle 27 TFS2 durch neue, 45 Meter lange Citadis 302 abgelöst und im Frühjahr 2013 für 5,2 Millionen Euro – neun Prozent des ursprünglichen Beschaffungspreises – nach Mit der Auslieferung der zweiten Serie für St. Étienne im Jahr 1998 endete bei Alsthom die Produktion der TFS mit total 197 Stück in allen Varianten. 1997 bestellte Montpel- lier als Erstkunde Alsthoms Nachfolgereihe Citadis. Ausschlaggebend für die Forcie- rung der Citadis-Plattform und die Einstel- lung der TFS-Reihe war für den Hersteller die Niederlage in der Ausschreibung für die neuen Straßburger Straßenbahnen, bei der sich die vollständig niederflurige Eurotram vom italienisch-schweizerischen Konsor- tium Socimi/ABB gegen den TFS2 durch- setzte. Diese Baureihe wurde später von Adtranz, sprich Bombardier, übernommen. Der 1928 durch die Fusion der Société Al- sacienne de Constructions Mécaniques und Gaziantep in die Türkei verkauft. Klassiker auf dem Rückzug

und selbst ein Verkehrsmuseum die Übernahme des pannenanfälligen Prototyps ablehnten, wurde dieser 2002 verschrottet. Kein Glück Obwohl die Erfahrungen mit dem Erstwagen für die ab 1996 anlaufende Serienproduktion der RT6N1 berücksichtigt wurden, traten bei den Kleinserien von je vier Stück für Prag und Brünn ab 1997 wieder Probleme mit den Drehgestellen, den Bremsen und beim Gleitschutz auf. Die Situation wurde durch den Konkurs der ČKD-Verkehrssparte im Jahr 2000 verschlechtert. Für die RT6N1 folg- ten längere Stillstandzeiten, Depotaufenthalte, Modifikationen und ein Refit bei der Firma Pars in Šumperk. 2009 entschied sich der Prager Ver- kehrsbetrieb zu einem Schlussstrich, rangierte die Kleinflotte aus und verkaufte sie ein Jahr später nach Posen (Poznań). In Brünn liefen die RT6N1 bis 2016, ehe auch von dort aus 2018 der Verkauf von zwei Wagen an Modertrans in Posen zustan- de kam. Immerhin blieb der Brünner Wagen 1803 lokal erhalten und ging in die Sammlung des städ- tischen Verkehrsmuseums über. Die größte Serie von zehn RT6N1 war 1997/98 unter Lizenz von H. Cegielski in Posen für den hei- mischen Straßenbahnbetrieb produziert worden. Obwohl auch dort anfänglich Schwierigkeiten und Mängel auftraten, liefen die Wagen im flachen und relativ anspruchslosen westpolnischen Netz besser als in den tschechischen Städten. Durch verschiedene Optimierungen und Modifikationen konnte Modertrans als Tochtergesellschaft des städtischen Verkehrsbetriebes MPK ab 2010 die Zuverlässigkeit der RT6N1 in Posen steigern. Mit dem Erwerb der Prager und Brünner Wagen ver- größerte sich die Flotte auf 16 Stück. Diese sind als RT6-MF06AC weiterhin im Einsatz. Patrik Ko- tas wurde später von Škoda mit dem Entwurf des Designs der 15T für Prag und Riga beauftragt.

Am 16. November 2017 ist die tschechische TFS-Kopie mit dem Tatra RT6N1 Nummer 401 in Posen auf der Linie 23 unter- wegs. Im Vergleich zum franzö- sischen Original verwendet die tschechische Kopie keine langen Panoramafenster, sonst sind Kons- truktionsaufbau sowie Karosserie- gestaltung auffallend ähnlich

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