Bahn Extra

chen und arg zugewachsen, erinnert er nicht mehr an den einstigen Knotenpunkt einen Kilometer weit vor der Stadt. Hier kreuzte die Lübecker-Büchener Eisenbahn mit der Kaiserbahn von Berlin über Hagenow nach Kiel und mit der Schmalspurbahn hinunter zur Stadt und weiter nach Klein Thurow. Zu meiner Zeit, 1966 bis 1972, gab es auf dem Bahnhof einen Bahnhofsvorsteher, der auf der linken Seite des Eingangsflurs sein Büro hatte, und zwei oder drei Bahnbeamte, die auf der rechten Seite für den Schalter und die Gepäckabfertigung zuständig waren. Am Ende des schlichten Flures befanden sich vor dem Ausgang noch ein Kiosk und eine Gast- stätte, die meist geschlossen hatte. Der Flur war als Wartebereich bei Regen allerdings viel zu klein. Mit dem Zug unterwegs An Werktagen fuhr am Morgen – so gegen 6:45 Uhr ab Ratzeburg – eineV 100 mit sechs grünen Dreiachser-Umbauwagen von Lü- neburg nach Lübeck. Am Samstag kam für die Schüler ein Schienenbus zum Einsatz. Je nach Schulschluss gab es verschiedene Züge zurück. Mittags nach der vierten Stun- de liebten wir den frühen Zug, der gegen zwölf Uhr abfuhr, in der Regel bespannt mit einerV 100 und etwa sechs alten Schürzen- wagen von Flensburg nach Bad Harzburg. Nach der fünften Stunde ging es gegen 13 Uhr mit dem Schienenbus zurück. In der Regel fuhren wir aber nach der sechsten Stunde nach Hause, mit einem Triebzug VT 12 gegen 14:30 Uhr in Richtung Lüne- burg, den wir nicht ganz korrekt „Fliegen- der Hamburger“ nannten. Die grünen Um- bauwagen der Wagenzüge waren in der winterlichen Frühe stets gut geheizt, sodass wir uns prima aufwärmen und bei Nässe trocknen konnten. Nicht immer ging alles glatt. Es kam ge- legentlich vor, dass der Lokführer beim An- halten den Bahnhof verfehlte. Er fuhr zu weit und musste dann wieder langsam zurückset- zen. Die Schranken waren ja ohnehin ge- schlossen. Es kam auch vor, dass der Zug aus Lüneburg über eine Stunde Verspätung hat- te. Das war im Winter nicht angenehm. Eng gedrängt warteten wir im Bahnhofsflur. Ein- mal traf eine Ersatzlok ein, eine Rangierlok vomTypV 60! Der Zug fuhr nur langsam und war nicht geheizt. Beim Abbremsen spürte man das Ruckeln der Pleuelstangen. Wir er- reichten nur mit großer Verspätung den lau- fenden Unterricht. Bei hoher Schneelage fuhr gelegentlich eineV 200 mit einer großen Schneefräse vorweg. Dies führte zu mehr- stündigen Verspätungen. Die Fontäne des ausgeschleuderten Schnees auf offener Stre- cke war gigantisch. Selbst meine Mutter in der Försterei hatte sie bemerkt. Die alten Schürzenwagen auf der Rück- fahrt waren sehr gemütlich und im Winter schön warm. Die Ausstiegsplattformen mit

Vermutlich in den 1950er-Jahren entstand dieses Bild im Bahnhof Ratzeburg. Das preußische Empfangsgebäude und das Stellwerk links daneben präsentierten sich auch später noch so; allerdings reduzierte die Bundesbahn in Ratzeburg das Personal Slg. Vincent Volf

In den späten 1960ern begeisterten die VT 12 den jungen Bahnfahrer in Ratzeburg aufgrund des hohen Komforts. Im Mai 1980 befahren die Triebzüge unter anderem die Strecke Lübeck – Lüneburg; in Mölln begegnet ein VT 12 bzw. 612 einem DB-Bahndienstfahrzeug Benno Wiesmüller Die Strecken rund um Ratzeburg auf der Bundesbahn-Kurs- buchkarte vom September 1968. Dies war das „Bahnrevier“ von Autor Götz Heeschen Slg. Konrad Rothzoll

den vier Türen an den Wagenenden ließen viel Platz beim Ein- und Aussteigen. Hier konnte man vorne in aller Ruhe auf die leicht schwankende Lok während der Fahrt sehen. Die V 200, die gelegentlich zum Ein- satz kam, fuhr auf freier Strecke deutlich schneller. Als die ersteV 160 eintraf, staunte ich nicht schlecht über ihr bulliges Ausse- hen und ihre kräftige Anfahrt. Meine Schwestern hatten weniger Inter- esse am Bahnbetrieb. An den Zug werktags in der Frühe erinnern sie sich nur ungern. War dieser doch voller Leute, die stur in ihre Zeitung guckten. Dicker Zigarettenqualm drang immer wieder vom Raucherabteil zu uns ins Nichtraucherabteil. Wir liebten aber die Fahrt mit dem Schienenbus und mit dem „Fliegenden Hamburger“. Der Letztere im- ponierte uns mit seinem schicken Aussehen

und den Polstersitzen, in denen man förm- lich versank. Eisenbahnfan durch und durch Mit diesen Eindrücken war der Grundstein für meine Bahn-Begeisterung gelegt. Sie be- kam später noch Auftrieb, durch viele D- Zug-Fahrten mit der 110 oder IC-Reisen mit der 103. Heute im Ruhestand erfülle ich mir Kindheitsträume: eine H0-Eisenbahn im Wohnzimmer mit den Zügen meiner Jugend oder als „Ehrenlokführer“ auf einer V 20 beim Museumsverein Schönberger Strand bei Kiel. Ein bisschen von meiner Euphorie konnte ich auch weitergeben. Die Kinder des Kindergartens in meinem heutigen Wohnort Blumenthal bei Kiel sind mit Begeisterung bei der Modellbahn. Stets fragen sie, wann sie wieder kommen können.

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BAHN EXTRA 4/2022

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