Bahn Extra

BahnEpoche | PERSONEN

Hans-Joachim Lange Vom Reichsbahner zum Freizeit-Eisenbahner Die Eisenbahnaffinität wurde Hans-Joachim Lange buchstäblich in die Wiege gelegt. Im Dienst und außerberuflich beeindruckt ihn die Eisenbahn bis heute. Für Bahn Extra/ Bahn Epoche erzählt der heute 84-Jährige aus seinen Lebenserinnerungen

G eboren bin ich am 28. Dezember 1937 in Dessau. Meine Eltern und die Vorfahren stammen aus Schle- sien. Dort standen auch beide Großväter bei den Preußischen Staatseisenbahnen und der nachfolgenden Deutschen Reichsbahn- Gesellschaft in Lohn und Brot. Der Opa mütterlicherseits fuhr als Oberlokführer beim Bahnbetriebswerk Oels. Der andere

das Schuljahr in Oels und am 1. September war ich wieder in meiner Dessauer Klasse. Der Krieg ging rasant dem Ende entge- gen. Am 7. März 1945 wurde die Innenstadt von Dessau bei einem Luftangriff der Eng- länder fast völlig zerstört. Am 21. April be- setzten die Amerikaner Dessau. Die zogen jedoch Ende Juni ab und am 2. Juli 1945 wurden wir Teil der Sowjetischen Besat- zungszone.

Keller oder in den Bunker. Bei einem Be- such der Tante in Beuthen (Oberschlesien) erlebte ich, dass sich bei einem der seltenen Alarme die Hausbewohner lediglich zu ei- nem Schwätzchen in das Treppenhaus be- gaben. Schlesien war halt der „Luftschutz- keller des Reiches“. Am 1. September 1943 begann meine Schulzeit in der neu erbautenVolksschuleV

war Werkmeister im Bw Neis- se. Mein Vater war technischer Angestellter im Reichsbahn- ausbesserungswerk Dessau. Die Eisenbahn übte schon als Kind eine große Faszination auf mich aus. So lag in der Schublade unseres Küchenbuf- fets eine Postkarte der Semme- ringbahn, die meine Eltern 1939 von einer Reise in die „Ost- mark“ an ihre Eltern nach Neis- se geschickt hatten. Diese Karte schaute ich öfter an. Noch heu- te ist sie in meinem Besitz. Kriegs- und Nachkriegszeit In Erinnerung blieben mir die Sommer-Reisen zu den Groß- eltern nach Schlesien. Dazu nutzten wir einen Eilzug, der in Dessau um 07:43 Uhr abging (Fahrplan 1941) und über Fal- kenberg, Hoyerswerda um 12:05 Uhr den Endbahnhof

Mein Vater brachte täglich unangenehme Nachrichten aus dem Werk mit. Mit den Ameri- kanern verschwanden auch et- liche Beamte und andere ge- fährdete Mitarbeiter in die Westzonen. Als ehemaliger Parteigenosse wurde Vater nach Feierabend und an den Wochenenden zu Sonderarbeit durch die neue Macht abgeholt. Die Zerstörungen und Demon- tagen betrafen inzwischen auch die Eisenbahn. Die elekt- rische Zugförderung und das zweite Streckengleis wurden abgebaut und nach Osten transportiert. Am Haltepunkt Dessau Süd sah ich, wie eine Arbeitstruppe die Fahrleitung in Stücke schnitt und auf Flach- wagen fallen ließ. Auch die Fahrleitungsjoche wurden über den Fundamentkappen abge-

Mein Anfang als Zeichner bei der Versuchsanstalt für Motorfahrzeuge (VAMF) in Dessau; das Bild stammt vom März 1958 Aufnahmen des Beitrags, wenn nicht anders angegeben: Hans-Joachim Lange bzw. Slg. Hans-Joachim Lange

Kohlfurt erreichte. Hier hatten wir An- schluss an einen Eilzug von Dresden und erreichten um 14:31 Uhr Breslau Hbf. Kurz vor vier waren wir dann in Oels. Wegen der kriegsbedingten Zugausdünnungen ab 1943 verlängerte sich die Reisedauer, da die Anschlüsse nicht mehr passten. Die zuneh- mende Gefahr von Luftangriffen veranlass- te uns sogar, einmal nachts zu fahren. Wäh- rend die Fahrten nach Schlesien über Kohlfurt gingen, liefen die Rückfahrten von Breslau über Liegnitz, Sorau, Cottbus, De- litzsch/Leipzig nach Dessau Süd. In Dessau schickten uns die Luftschutz- Sirenen ab 1943 fast jeden Abend in den

brannt und fielen rechts und links in den Dreck. Sah ich in Dessau Süd bisher nur El- loks, herrschte plötzlich der Dampfbetrieb. Nun dominierten P 8 und 52er. Da meinVater im Werk bis dahin das Maschinenbuch geführt hatte, bestimmte ihn der neue Werk- leiter zum Mitglied in der deutschen Demon- tageleitung. Auch Hallen des Reichbahnaus- besserungswerks (Raw) Dessau sollten abgerissen werden und nach Tscheljabinsk gehen. Sie wurden gründlich ausgeräumt, blieben dann aber doch stehen. Ich ging im Schichtunterricht weiter in unsere teils zerstörte Grundschule. Die al- ten Lehrer verschwanden. Wir bekamen

in Dessau Süd. Wegen der ständig zuneh- menden Gefahr von Bombenangriffen wur- den wir, mein Bruder und ich, im November 1943 nach Oels evakuiert. Dort ging ich in eine betagte, preußische Schule. Der Herr Direktor ließ bei Vergehen noch den Rohr- stock sprechen. Ich bekam zweimal einen Streich über die Finger der ausgestreckten Hand. Der Schmerz hielt über mehrere Stunden an. Im Sommer 1944 gab es alarmierende Meldungen von der Ostfront. Bei der Beer- digung des Großvaters im Juni in Neisse be- schloss der Familienrat, dass wir wieder nach Dessau zurückkehren. Ich beendete

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BAHN EXTRA 4/2022

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